Nizza-Anschlag Dem Terror hilflos ausgeliefert

Eine europäische Anti-Terror-Behörde, mehr Daten austauschen? Nach dem Terror in Nizza überlegt die Politik neue Sicherheitsmaßnahmen. Doch Anschläge auf Großveranstaltungen sind kaum zu verhindern, sagen Experten.

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Angst vor unberechenbaren Einzeltätern: Mit diesem Lkw ist ein Frankotunesier in Nizza in eine Menschenmenge gerast. Quelle: AFP

Berlin Nicht nur Frankreich steht unter Schock nach dem Massaker an der weltberühmten Strandpromenade in Nizza, auch international lösten die Nachrichten aus Südfrankreich Entsetzen aus. Die Frage, die sich nun viele Sicherheitsexperten stellen, lautet: Wie lässt sich ein solcher Terrorakt verhindern?

Die Antwort darauf ist denkbar schwierig. Der verheerende Anschlag in Nizza zeigt einmal mehr der Politik und ihren Antiterrormaßnahmen Grenzen auf, zumal wenn, wie in Frankreich, ein Einzeltäter einen 19 Tonnen schweren Lkw als Tatwaffe nutzt. Am Donnerstagabend hatte ein 31-jähriger Frankotunesier kurz nach einem Feuerwerk anlässlich des französischen Nationalfeiertags auf der Strandpromenade von Nizza das Fahrzeug in eine Menschenmenge gesteuert. Dabei wurden mehr als 80 Menschen getötet.

Solchen Einzeltätern haben die Staaten allerdings nicht viel entgegenzusetzen. Überhaupt scheint der Kampf gegen den Terror ein auswegloses Unterfangen zu sein, glaubt man dem ehemaligen Direktor des israelischen Stabs zur Terrorbekämpfung im Büro des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, Nitzan Nuriel. „Grundsätzlich muss man sagen, dass es keine 100-prozentige Lösung für alle Arten von Szenarien gibt“, sagte Nuriel der Nachrichtenagentur dpa. „Ich gehöre zu den Leuten, die glauben, dass Terrorismus für immer um uns sein wird. So wie wir uns an Kriminalität gewöhnt haben, müssen wir uns an Terrorattacken gewöhnen.“

Das Einzeltäter-Phänomen sehen auch deutsche Experten als schier unlösbares Problem – vor allem, wenn es um den Schutz von Großveranstaltungen geht. „Wir können im Vorfeld solcher Ereignisse versuchen, Früherkennung zu betreiben und das geschieht auch. Aber Einzeltäter zu erkennen ist nahezu unmöglich“, sagte der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, dem Handelsblatt. Man dürfe sich daher keine Illusionen machen, auch in Deutschland sei ein solcher Anschlag möglich. „Massenveranstaltungen kann man kaum gegen entschlossene Täter schützen.“

Der Vize-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Ulf Küch, befürchtet weitere Taten nach dem Nizza-Muster – auch in Deutschland. „Man sieht, dass die Unmenschen nicht nur herkömmliche Waffen gebrauchen, sondern mittlerweile mittels eines einfachen Lkw ihre mörderischen Spuren zu ziehen in der Lage sind. In solchen Fällen ist es kaum möglich hier etwas zu verhindern“, sagte Küch dem Handelsblatt. Natürlich würden auch Großveranstaltungen von den Polizeien geschützt. „Aber den 100prozentigen Schutz wird es in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht geben.“


NRW verstärkt Schutz von Großveranstaltungen

Das bedeutet auch, wie der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD), sagte, dass der Terror heute jeden an fast jedem Ort treffen könne. „Deshalb schützt die NRW-Polizei gefährdete Objekte und Großveranstaltungen seit längerem besonders intensiv“, betonte der Minister. Wo erforderlich, werde die Präsenz jetzt nochmals verstärkt. In Düsseldorf und Köln stehen mit der Rhein-Kirmes und den Kölner Lichtern zwei Großveranstaltungen unmittelbar bevor. „Die Terroristen wollen uns ein Angstdiktat aufdrücken. Das werden wir nicht zulassen“, sagte Jäger.

Einen besseren Schutz gegen Terror verspricht sich die Bundesregierung von ihren jüngst beschlossenen Maßnahmen. Danach haben Polizei und Geheimdienste in Deutschland zusätzliche Befugnisse erhalten. Union und SPD hatten dazu Ende Juni ein Anti-Terror-Paket im Bundestag auf den Weg gebracht.

Das neue Gesetz erlaubt dem Bundesamt für Verfassungsschutz, für die Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten gemeinsame Dateien einzurichten. So sollen grenzüberschreitend Bestrebungen oder Tätigkeiten erforscht werden, „die sich auf bestimmte Ereignisse oder Personenkreise beziehen“. Die Bundespolizei kann zudem künftig ebenso wie das Bundeskriminalamt (BKA) verdeckte Ermittler nicht nur zur Strafverfolgung, sondern auch zur Gefahrenabwehr einsetzen.

Die jetzt geschaffenen 3.000 Stellen bei der Bundespolizei reichen dem SPD-Innenexperte Burkhard Lischka aber nicht aus. „Wir brauchen in den nächsten Jahren eine Verdopplung dieser Zahl auf 6.000, um besser gegen Terrorakte im Inland gewappnet zu sein.“

Bundesinnenminister Thomas de Maizière sieht den Nizza-Anschlag zwar als Beleg dafür, wie real die Gefahr islamistischer Terrorakte in Europa sei. Auch Deutschland stehe im Fokus solcher islamistischen Attentate, sagte der CDU-Politiker. Bedarf für weitergehende Maßnahmen sieht er aber nicht. „Die Sicherheitsbehörden in Deutschland tun alles in ihrer Macht stehende, um Anschläge in Deutschland zu verhindern. Eine Garantie dafür, dass das immer gelingt, gibt es leider nicht.“


Großbritannien will Anti-Terror-Anstrengungen verdoppeln

Lischka forderte den Minister dagegen auf, endlich seinen Widerstand gegen ein gemeinsames Europäisches Terrorzentrum aufzugeben und sich für dessen Einrichtung einzusetzen. „Es hilft niemandem, wenn wir nach solchen Anschlägen immer nur unsere uneingeschränkte Solidarität erklären“, so Lischka. Auch der Polizeigewerkschafter Wendt plädierte für eine EU-Behörde: „Das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum in Deutschland hat sich bewährt, es wird höchste Zeit, eine entsprechende Einrichtung auch auf europäischer Ebene zu schaffen, damit die Informationen über Gefährder ständig aktuell sind und Vorbereitungshandlungen frühzeitig erkannt werden.“

De Maizière hält aber schon aus praktischen Gründen nichts von solchen Forderungen. Allein im deutschen Terrorabwehrzentrum arbeiteten 40 Behörden zusammen, hatte der CDU-Politiker vor kurzem den Vorstoß der SPD abgebügelt. „Ein europäisches Abwehrzentrum müsste ja 28 Staaten mit unzähligen Behörden vereinen. Eine Übertragung des Modells auf Europa wird daher zumindest in Reinform kaum funktionieren.“

Damit dürfte die Debatte aber kaum zu Ende sein. Zumal auch schon europaweit wieder über das Thema Sicherheit diskutiert wird. In zahlreichen europäischen Ländern wurden unter dem Eindruck des Anschlags von Nizza Sicherheitsmaßnahmen bereits verschärft. Großbritannien will seine Anstrengungen im Kampf gegen den Terror sogar verdoppeln, um „diese brutalen Mörder zu besiegen, die unsere Art zu leben zerstören wollen“, wie die neue britische Premierministerin Theresa May sagte.

Ulf Küch vom Bund Deutscher Kriminalbeamter kann mit solchen politischen Lippenbekenntnissen nicht viel anfangen. Leider würden nach „schlimmen Anschlägen“ immer einfache Lösungen angeboten, um das Problem in den Griff zu bekommen.


„Es kann überall stattfinden, nicht nur in Europa“

Radikalen Tätern den Zugang zu internationalen Internetforen zu sperren, sei schon seit Jahren immer wieder gefordert worden. Passiert sei aber nichts. „Es ist auch die Frage, ob das in einem weltweit agierenden Servernetz so ohne weiteres möglich sein wird, solange keine international verbindlichen Standards vereinbart und um- und durchgesetzt worden sind“, sagte Küch. Letztlich sehe man ja auch, wie sich Internetunternehmen wie Google oder Facebook schwer damit tun, „schnell und nachhaltig ihre Foren mit radikalen Seiten zu säubern“.

Auch eine bessere Zusammenarbeit von Geheimdiensten ist für Küch „nicht mehr als ein frommer Wunsch eines bundesdeutschen Politikers“. „Solange die 16 Länderpolizeien mit jeweils unterschiedlichen Systemen arbeiten und sich kaum oder nur sehr schwer untereinander austauschen können, solange es selbst RAF-Leuten der dritten Generation möglich ist, durch unsere Republik zu reisen und einen Raubüberfall nach dem anderen zu begehen, solange wird sich auch im Bereich des international vernetzten Terrorismus kaum etwas verändern.“

Der israelische Anti-Terror-Experte Nitzan Nuriel rät denn auch zu mehr Realismus in der Debatte. „Das einzige Ansinnen, das wir haben können, ist, den Terror auf einem möglichst niedrigen Level zu halten“, sagte er. Die Terroristen würden versuchen, jeden Monat einen großen Anschlag wie den in Südfrankreich zu haben. Eine der Herausforderungen sei daher, dass nach einem Anschlag wie in Nizza Menschen versuchen, dieses Szenario nachzuahmen. „Sie haben gesehen, wie einfach es ist“, sagte Nuriel. „Es kann überall stattfinden, nicht nur in Europa, auch etwa in den USA oder Kanada.“

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