Norderney in der Coronakrise Meer oder weniger

Norderney profitiert vom Tourismus, der durch die Coronakrise aber stark eingeschränkt war. Quelle: dpa

Seit Jahren leben die Norderneyer im Zwiespalt zwischen dem sozialen Inselleben und Wohlstand durch Tourismus. Die Corona-Pandemie verschärft dieses Problem. Ein Besuch bei Insulanern zwischen Vorfreude und Skepsis.

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Der Fährmann

Der Mensch, der das Virus früher oder später wieder auf die Insel verfrachten wird, steht auf seiner Brücke 13 Meter über dem Meeresspiegel. Es ist 8 Uhr, vor Johann Schröder ruht die Nordsee. Seit 30 Minuten lenkt der Kapitän mit seiner zweiköpfigen Crew die Frisia IV in Richtung Norderney. Am Steuerknüppel sitzt seine Auszubildende. Schröder telefoniert gerade, in Uniform und Schlips läuft er die Fensterfront entlang. Er hat eine kleine Plauze. Seine Kommandozentrale ist größer als die meisten Wohnzimmer, knapp 60 Quadratmeter inklusive 180-Grad-Blick. Der Corona-Mindestabstand wäre auch mit 20 Personen auf der Brücke nicht in Gefahr.

Doch das Problem für Norderney ist nicht die Besatzung der Fähre. Es sind die Menschen, die sie transportiert. Aber die Ostfriesischen Inseln seien nun mal auf den Tourismus angewiesen, meint der 56-Jährige. Doch bedeuteten mehr Gäste ein höheres Risiko, Covid-19 einzuschleppen. Die Insulaner hätten Angst. An Bord sind 60 Passagiere. Platz hätten 1380. Morgens seien es momentan etwas mehr, sagt Schröder, darunter Pendler, die auf der Insel keine Wohnung fänden.
Auf der Brücke trägt keiner eine Maske. Radio Nordseewelle kündigt zehn Sonnenstunden an, bei der Ankunft steht Dunst über der Insel. 15 Grad. Schröder hat den Kommandostuhl eingenommen und peilt das Fährbett an. Er drückt, wenig begeistert von dem, was gleich abgespielt wird, auf einen Knopf. Die Stimme einer Frau ertönt: „Liebe Gäste, achten Sie auf Ihre Gesundheit…“

1,4 Kilometer entfernt, im Inselinneren achten Gärtner vor dem Conversationshaus darauf, dass alles chic aussieht. Sie jäten Unkraut und richten Beete. Nur wenige Menschen sind auf dem Kurplatz unterwegs, Spielbank, Nullachtfünfzehn-Café-Kette, Kurverwaltung. Ganz in der Nähe, dort, wo bis vor einigen Monaten der Wochenmarkt stattfand, rattert ein Presslufthammer. Ein Abriss.

Die Wochenmarkthändlerin

Die Verkäufer des Wochenmarkts bauen ihre Stände wegen einer Baustelle auf dem Schulhof der Grundschule auf. Anke Wilts kommt wie fast alle Anbieter jeden Mittwoch mit der Fähre vom Festland. Wilts‘ Vater hat den Markt vor 20 Jahren gegründet, als das Supermarkt-Angebot noch nicht so groß war. Eier, Geflügel, Obst und Gemüse verkaufen sie noch heute. Wochenmärkte mussten nicht dichtmachen, Corona habe trotzdem enorme Auswirkungen auf ihr Geschäft, sagt Wilts. Denn Wochenmärkte und der Einzelhandel machten nur 15 Prozent ihres Umsatzes aus. Der bedeutendere Großhandelsbereich brach für viele Wochen fast vollständig weg.

Ein alter Mann kommt mit seinem Elektro-Wägelchen angefahren. „Zehn Dicke“, sagt er freundlich mit gebrauchter Stimme. Wie immer. Wilts packt die Eier ein, kommt hinter dem Stand hervor, legt die Packung in den Korb seines Rollstuhls und fingert einige Münzen aus dem Portemonnaie des Kunden. Eine Maske trägt er nicht. Vor allem die männliche Risikogruppe scheint sich nicht um die Maskenpflicht zu scheren, die auf dem Schulhof gilt. 300 Euro koste sie das, wenn sie unmaskierte Kundschaft bediene, erklärt eine Verkäuferin einem anderen Mann im Rollstuhl. Das Ordnungsamt schüchtere ihre Kunden ein, klagt sagt sie und verzieht das Gesicht.

Vor den Läden Norderneys warten vereinzelt Kunden und ziehen sich vor dem Betreten schnell Masken über Mund und Nase. Die Polizei fährt in einem nigelnagelneuen E-Auto vorbei. Im Hilfiger-Store warten zwei weiß-schwarze AMG-Bobbycars auf die Kleinkinder ihrer Kunden.

Der Kurdirektor

Wer Wilhelm Loth besuchen möchte, muss hingegen durch den Hintereingang. Der Kurdirektor sitzt gegenüber der Hilfiger-Filiale Am Kurplatz 3. Der Vordereingang ist coronabedingt dicht. Der Direktor trägt Hemd und Strickjacke. Auf förmliche Begrüßung verzichtet er, aber es gibt natürlich Tee. Seine Maske mit Ankermotiven senkt er zum Sprechen bis übers Kinn. Manche Medien würden voreilig und verwirrend über Maßnahmen und Neuregelungen informieren, sagt er.
Wie gehen die Insulaner nun damit um, dass das, wovon sie leben, sie potenziell gefährdet?

Eigentlich wollte Norderney diese Frage Ende April im Stadtrat beantworten. Kein anderer Urlaubsort in Deutschland hat so hohe Quadratmeterpreise wie Norderney, nicht einmal Sylt. In der Ratssitzung wollten sie das diskutieren: vom Tourismus zu profitieren, ohne seine Heimat zu verlieren. Doch dann kam Corona. Und plötzlich war die Frage auf ganze andere Weise existenziell. Denn das Coronavirus kann Menschenleben kosten. Einer der neun positiv Getesteten auf der Insel ist 74-jährig gestorben.

Quelle: privat

Loth und seine Kollegen müssen diese Ambivalenz moderieren. Auf das Alleinstellungsmerkmal der Rekord-Kaufpreise seien sie „nicht besonders stolz“, sagt Loth. Die neue Situation „inmitten einer Raumdiskussion“ sei ihnen „fast unheimlich vorgekommen“. Wie abhängig Norderney von diesem einen Wirtschaftszweig ist, hat diese Krise verdeutlicht. Gar keine Gäste zu haben, habe „viele geerdet“, auch solche, die vorher eher für eine Reduktion des Tourismus waren.
Norderney hat sich für einen „sektoralen Aufbau“ entschieden. So nennt Loth das.

Heißt: Schritt für Schritt. Pfingsten öffnet ein zweiter Strand. Die Strandkörbe stehen mit dem gebotenen Abstand bereit. „Wir versuchen jede Woche ein Stück mehr mutig zu sein.“ Als einzige Ostfriesen-Insel bleibt Norderney jedoch bei der Sechs-Nächte-Regel. So lange müssen Gäste mindestens buchen, um den Durchlauf gering zu halten. Insgesamt rechnet Loth bereits jetzt mit einem Schaden für die Insel-Wirtschaft in dreistelliger Millionenhöhe.

Es ist Mittag. Doch vorm „Pesto Pesto“ und der Pizzeria „La Gondola“ sitzt um 12.30 Uhr niemand. Keine Sonne in der Langestraße. Eine der geringeren Sorgen in diesen Zeiten.

Der Hotelier

„Wenn Sie uns auf die Nerven fallen, machen wir die Baustelle zu und Feierabend“, ruft Jann Ennen in sein Mobiltelefon. Er spricht zum Hausmeister einer Wohnung, wo sich Gäste beschwert haben. Der 57-Jährige steht, Wuschelkopf, Hemd und Hose auf halb acht, vor einem seiner Hotels und regelt Sachen. Ennen betreibt Hotels und ein Immobilienbüro, vermietet Ferienwohnungen. Er ist im Einzelhandel aktiv und in der Gastronomie, er gibt die „Norderneyer Zeitung“ heraus. Außerdem ist er Politiker. 2019 verlor er haushoch die Bürgermeisterwahl.

Ennen grüßt jeden, der vorbeikommt. Er unterhält sich mit einem Mann vom Ordnungsamt, winkt einem Taxifahrer. Im Hotel bespricht er sich mit den Rezeptionisten, fragt nach den Tischlerarbeiten. In der Küche muss er mit zwei Mitarbeiterinnen die Speisekarte durchgehen. Treppe runter, Hose hoch. Unten angekommen schmeißt er die Pommes aus dem Programm. „Bisschen wenig Fleisch“, kommentiert er. Bislang hat das Hotel nur Frühstück angeboten, es wird ein Testlauf an Pfingsten.

Die Sechs-Tage-Regel trage er voll mit, sagt Ennen. Statt erlaubter 60 Prozent Auslastung wolle er weniger als die Hälfte der Betten belegen. „Nicht, dass wir es monetär nicht wollen, aber wir wollen es sicher machen für Mitarbeiter und Gäste“, so der gebürtige Norderneyer. „Man behält dieses Nichts nur, wenn man alles dafür tut, dass es so bleibt.“ Dann ist er weg.

Die Straße runter unterhalten sich lautstark zwei Männer. „Was ist mit deinem Frisör?“, fragt der eine. „Der ist gestorben“, sagt der andere. „Ja, das merke ich, dass da nichts passiert“, erwidert der eine.

Die Caféchefin

Im Café Marienhöhe ist keine Zeit für Scherze. In 15 Minuten wird das Lokal auf dem Hügel direkt am Strand wieder öffnen, nach neun Wochen. Sandra Stenzel ist die Chefin. Mitarbeiterin Chrissi sei die ganze Woche krank, „wir müssen alle fünf Tage arbeiten“, sagt Stenzel und verteilt die Aufgaben. Sie und eine Kollegin machen die „Security“ vor der Tür. Den Leuten erklären, wie’s läuft. Zettel und Stifte zur Nachverfolgung, falls es im Café zu einer Infektion kommt. Vor dem Betreten des runden Baus müssen sich alle die Hände desinfizieren, verlassen darf man die Marienhöhe nur über den Außenbereich.

Um Viertel vor fünf Uhr warten zwei Besucherinnen auf Einlass. Vor der Theke auf dem Boden sind die Markierungen für den Abstand aufgeklebt. Die Gäste müssen sich Getränke und Speisen selbst abholen. Salate und Wraps liegen abgepackt in der Auslage, eine Flasche Wein kostet 30 Euro. „Ich weiß nicht, was kommt, aber lassen wir uns überraschen“, sagt einer.

Jolanta Huss und Britta Linnenbrink, die zwei wartenden Frauen, sind schon ein paar Tage auf der Insel, sie wussten von der Öffnung, erzählen sie später auf der Terrasse. Der Nordseewind stößt die Sonnenschirme an. Huss und Linnenbrink trinken Aperol Sprizz im Plastikbecher für 8,50 Euro. Ungewohnte Zeiten unter Einweg-Bedingungen, aber der Klassiker gehöre einfach dazu, sagen sie.

Barbesitzer Tobias Pape hat Mitte Mai auf Facebook an die Touristen appelliert, Norderney fern zu bleiben. Es seien „viel zu viele Menschen auf der Insel“. An seiner Weststrandbar sei es „einfach zu voll“.

Das Enfant terrible

Ob er das immer noch so sieht, ist unklar. Pape lässt Mails und Anrufe unbeantwortet. Ob er heute vorbeikommt, wissen seine Mitarbeiter vor Ort nicht. Die Sonne steht noch voll im Westen. Es ist schwierig, an der Weststrandbar einen Platz zu ergattern. Vereinzelt sind mehr als zwei Haushalte auf einem Fleck. Aber zu großen Abstandsregelbrüchen kommt es nicht. „Der Post hat viele Norderneyer sehr verärgert“, hat Kurdirektor Loth am Vormittag gesagt. Wenn Pape das nicht hinbekomme, müsse er „den Laden zumachen anstatt die Gäste auszuladen“.

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