NRW-Wahl Ruhrgebiet als Sorgenkind und Hoffnungsträger

Hohe Arbeitslosigkeit, schlecht integrierte Migranten, verarmte Städte: Das Ruhrgebiet gilt als einzig verbliebener Krisenherd im Wachstumsland Deutschland - und wahlentscheidend für NRW. Aber ist wirklich alles so elend?

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NRW-Wahl: Ruhrgebiet ist der einzig verbleibende Krisenherd in Deutschland. Quelle: Laif

Es gibt ein Wahlplakat, das derzeit in ganz Nordrhein-Westfalen hängt und eigentlich schon alles verrät über dieses Bundesland, seinen Zustand, seine Selbstwahrnehmung, sein Elend. Auf dem Plakat sieht man Christian Lindner, den Vorsitzenden der FDP, mit Anpackermiene, hinter ihm eine schrecklich triste Betonwand, fleckig und voller Graffiti. Dazu der Spruch: „Nur weil Kinder gerne im Dreck spielen, müssen die Schulen nicht so aussehen.“ Daran ist alles richtig und doch alles falsch.

Im nordrhein-westfälischen Wahlkampf hat Lindner inhaltlich den Punkt voll getroffen. An den Schulen im Land gibt es viel zu tun, sogar mehr als in anderen Ländern. Doch die Wand, vor der Lindner steht, stammt gar nicht von einer Schule. Sondern von der Freitreppe am Düsseldorfer Rheinufer. Und die Graffiti auf der Mauer gibt es gar nicht mehr, die Stadt hat die Betonwand mit bunten Kacheln verziert.

Man kann diese Flunkerei abtun als Wahlkampf, da ist ja niemand besonders zimperlich. Stünde sie nicht so vortrefflich für die zwei Eigenschaften, die Deutschlands wichtigstes Bundesland ausmachen, vor allem, wenn man es auf das Ruhrgebiet, die Kernregion all seiner Probleme, verkürzt: das Missmanagement einerseits. Und die andauernde Selbstgeißelung seiner Politiker, Bürger und Wirtschaftsgrößen, die es zulassen, dass dieses in seiner Gesamtheit so durchschnittliche Bundesland doch als einzige Problemzone erscheint. Versehen mit dem ewigen Image einer vergangenen Industrieregion, die den Anschluss verpasst hat und jetzt die Jahre damit verplempert, die letzten Subventionsmilliarden durchzubringen. Der Gegenentwurf zum prosperierenden Süden, das kohlenschwarze Passepartout, vor dem der Reinraum der bajuwarischen Präzisionswirtschaft erst richtig helle strahlt.



Und über keine andere Region des Landes haben die Menschen ein so eindeutiges Bild wie über das Ruhrgebiet. So eindeutig, dass jede abweichende Darstellung entweder als Wahlkampf oder Sozialromantik abgetan wird. So eindeutig, dass es erst interessant wird, wenn es zweideutig wird. Und weil es das fast immer wird, wenn man einer Sache nahekommt, haben wir uns aufgemacht, diese Region ganz bewusst aus zwei Blickwinkeln zu betrachten, so wie jede Bilanz zwei Seiten hat; Soll und Haben. Wir haben eine Reporterin losgeschickt, nur das Schlechte zu suchen, und einen zweiten Reporter, nur nach dem Guten zu schauen. Wer beides liest, findet am Ende vielleicht, zumindest für sich selbst: ein stimmiges Bild.

I. Arbeitsmarkt

Minus. Immer wenn die Pausenklingel in der Bochumer Opel-Fabrik tönte, liefen die Arbeiter über die Straße zur Bürgerklause. Die Kneipe hat ein Extrafenster, durch das früher Bockwurst und Bier gereicht wurde. An manchen Tagen war der Andrang so groß, dass der Wirt Hunderte Gläser vorbereitete. Heute ist das Fenster zugenagelt. An diesem Vormittag sitzen drei Männer an der orange gekachelten Theke, trinken Bier und rauchen. Hier ist niemand, der sich darüber beschweren würde. Die Opel-Mitarbeiter sind längst weg. Als das Werk schloss, verloren mehr als 3000 Menschen ihren Arbeitsplatz. Einige von ihnen kamen in einer Transfergesellschaft unter, doch die meisten wurden früher oder später arbeitslos. Sie gehören seither zu den 270.000 Menschen im Ruhrgebiet, die keinen Job haben. Die Arbeitslosenquote ist hier fast doppelt so hoch wie im Rest von Deutschland. Und es ändert sich wenig. In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil der Menschen ohne Arbeit nur minimal gesunken, von gut elf auf knapp über zehn Prozent.

Dabei wollte man sich doch anpassen: Wo Fabriken schlossen, sollte einfach Neues eröffnen. Das klappte zum Teil auch, behebt aber auch nicht alle Verwerfungen. Wie am Rande der Gelsenkirchener Innenstadt. Hier steht ein Glasbau mit hellen Holzbalken, davor ein See, auf dem ein paar Enten ihre Bahnen ziehen. Der Wissenschaftspark ist das Aushängeschild der Stadt. Hier sitzen Firmen wie die von Markus Hoffmeister, ein frohes Gemüt mit grauem Bart und hellblauem Hemd. Der Mathematiker hat eine Technik entwickelt, um die Informationen auf Reisepässen und anderen Dokumenten zu verschlüsseln und damit Ende der Neunzigerjahre ein Unternehmen gegründet. Er stammt aus einer klassischen Pott-Familie. „Als ich mich selbstständig gemacht habe, waren meine Eltern sehr skeptisch. Es war selbstverständlich, sein Geld in der Zeche zu verdienen“, sagt er.

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