
Handelsblatt: Was ist zehn Jahre nach dem Pisa-Schock besser?
Andreas Schleicher: Seit Pisa muss sich Bildungspolitik und -praxis an tatsächlich erbrachten Schülerleistungen messen. Auch bewerten wir Chancengerechtigkeit nicht mehr daran, ob Schulen gleich aussehen, sondern ob es gelingt, die außergewöhnlichen Fähigkeiten gewöhnlicher Schüler aller sozialen Schichten zu finden und zu fördern. Das ist der entscheidende Mentalitätswandel, den Pisa bewirkt hat, und der letztlich zu deutlich verbesserten Schülerleistungen geführt hat.
Wie ist das Tempo im Vergleich zu anderen?
Für Deutschland ist es ein grundlegender Wandel, auch wenn die Leistungen in zentralen Feldern wie Lesen immer noch Mittelmaß sind. Die Tatsache, dass die Leistung in einigen Staaten stärker zugelegt hat, zeigt, dass man noch mehr erreichen kann.
Wie geht's weiter?
Die Reformdynamik hat sich in den letzten Jahren leider wieder etwas verlangsamt.
Wo liegen unsere größten Schwächen?
Trotz wichtiger Fortschritte hat Deutschland weiter großen Nachholbedarf beim Thema Chancengerechtigkeit. Erfolgreiche Bildungssysteme antworten auf verschiedene Interessen, Fähigkeiten und soziale Kontexte der Schüler nicht mit Klassenwiederholungen oder einem gegliederten Schulsystem. Das ist auch von zentraler Bedeutung, um die Leistungsspitze besser zu fördern, wo es in Deutschland ebenfalls hapert.
Und sonst?
Daneben ist der Übergang zu kompetenzorientiertem Lernen entscheidend. Die Reproduktion von Fachwissen, das man Schülern leicht im Gleichschritt vermitteln kann, reicht nicht mehr. Zum einen veraltet derartiges Wissen schnell, zum anderen hat Arbeit, die digitalisiert oder automatisiert werden kann, in Hochlohnländern keine Zukunft. Sie können heute fast jede Multiple-Choice-Klassenarbeit mit Hilfe eines Smartphones in Sekundenschnelle lösen. Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder nicht nur fast so gut wie ein Smartphone sind, müssen Sie gute Lernstrategien wirksam verankern.
Sie haben oft das dreigliedrige System kritisiert. Nun tendieren wir zum zweigliedrigen ...
Ja, das ist ein wichtiger Schritt zum Abbau institutioneller Barrieren, die letztlich Lernen hindern und Chancenungerechtigkeit vergrößern. Erfolgreiche Bildungssysteme haben klare, anspruchsvolle Leistungsziele, die für alle Schüler gelten - einschließlich derer mit Migrationshintergrund -, und machen sich dann Gedanken, wie sie Lehrer und Schulen unterstützen können. Also, die Frage ist nicht, wie wir den Horizont von Schülern aus ungünstigeren sozialen Verhältnissen möglichst schnell herunternivellieren können, indem wir sie in Schulen mit niedrigen Anforderungen stecken, so wie in Deutschland, sondern wie wir sie so fördern, dass sie möglichst schnell Anschluss finden.
Manche sagen, wir brauchen nicht mehr Geld, sondern müssen es gezielter ausgeben.
Richtig. Qualität von Unterricht ist wichtiger als Rahmendaten wie Klassengrößen oder Unterrichtszeit. Wichtig ist auch, dass mehr Ressourcen in die Grundschule verlagert werden, wo die Grundlagen gelegt werden. Äußerst fragwürdig ist hier, dass in Deutschland im Kindergarten eine im OECD-Vergleich hohe private Kostenbeteiligung fester Bestandteil der Finanzierung ist, während Gebühren an der Hochschule kaum eine Rolle spielen.