Die Einkommen in Deutschland waren im Jahr 2000 genauso ungleich verteilt wie 1820. Zu diesem Schluss kommt die Anfang Oktober veröffentlichte OECD-Studie „How Was Life? Global Well-Being Since 1820“ – zumindest auf den ersten Blick
Rückblick. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Deutschland geprägt von der Agrarwirtschaft. Auf großen landwirtschaftlichen Besitztümern ließen Lehnsherren ländliche Arbeiter und Kleinbauern ihren Wohlstand erwirtschaften, vor allem in den östlichen Landesteilen.
De facto hat die Ungleichheit seit dem 19. Jahrhundert jedoch abgenommen. „Der Grund dafür ist die heute weitaus höhere Staatsquote“, sagt Jörg Baten, Wirtschaftshistoriker der Universität Tübingen und einer der Autoren der Studie. Wer im 19. Jahrhundert arm war, der litt nach schlechten Ernten buchstäblich Hunger. Heute bezieht er Hartz IV und kann damit zumindest seine Existenz sichern.
Zur OECD-Studie
Die Autoren entschieden sich die Einkommen vor Steuern zu bewerten, da aus historischer Sicht lediglich diese Daten verfügbar waren.
Verteilungsmaßnahmen durch die staatliche Steuerpolitik werden also nicht berücksichtigt.
Zudem sind viele der historischen Daten nur Schätzungen.
Dargestellt sind die Daten anhand des Gini-Koeffizienten, wobei bei einem Wert 0 jeder Person das gleiche Einkommen zukäme und beim Wert 100 eine Person das gesamte Einkommen auf sich vereine.
Die OECD – die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – hat die Studie herausgegeben. Verfasst wurde sie von verschiedenen Historikern u.a. aus Amerika, Deutschland, Frankreich und Großbritannien.
Die Autoren der Studie messen die Einkommensungleichheit am Einkommen vor Steuern – die Zahlen entsprechen also der Einkommensverteilung ohne das Korrektiv der Steuerpolitik. Das lässt einen nicht minder interessanten Schluss zu: Ohne die Umverteilungspolitik des Sozialstaats entspräche die Ungleichheit im Jahr 2000 der vor 200 Jahren. Und das, obwohl es im Verlauf der Geschichte durchaus Entwicklungen gab, die eine fairere Verteilung der Einkommen hervorbrachten.
Ein historischer Überblick
Mit der beginnenden Industrialisierung wurde die ökonomische Vorherrschaft der Großgrundbesitzer aufgebrochen – zahlreiche Unternehmer stellten Industriearbeiter ein, ihre Einkommen wuchsen relativ zu denen der Landbesitzer. „Während der Industrialisierung konnten breitere Teile der Bevölkerung über Bildung und Ausbildung erstmals erhebliche Einkommenszuwächse erreichen“, sagt Baten.
Gleichwohl gab es regelmäßig Rückschläge. Im frühen Kaiserreich etwa wurde das Absinken der Lebensmittelpreise durch Importe (und damit die Zunahme der realen Arbeitereinkommen) aufgehalten. „Der Grund war agrarischer Protektionismus“, sagt Baten. Die traditionell wohlhabenden Landbesitzer wurden wieder besser gestellt.
Oder während der NS-Zeit: Damals gab es gezielte Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der Großunternehmer. „Um die Industriellen bei der Stange zu halten, verteilten die Nationalsozialisten die Einkommen von den unteren Schichten zu Gunsten der Oberschicht um“, erklärt Baten. Die NS-Politik zielte auf Kriegsproduktion, für die die Kooperation der Großunternehmen unverzichtbar war. „Die Nationalsozialisten lockten Unternehmen mit deutlich höheren Gewinnen in die Kriegswirtschaft, und drohten zusätzlich mit Repressalien.“
In den Fünfzigerjahren machte sich in Europa Hoffnung breit. „Im sogenannten goldenen Zeitalter nahm die Ungleichheit stark ab“, sagt Baten. Steigende Wachstumsraten waren ein gesamteuropäisches Phänomen. „Insgesamt gab es eine Überschussnachfrage nach Arbeit. Von daher wurde der Faktor Arbeit auch gut entlohnt.“ Zudem verabschiedete sich die Wirtschaft endgültig von der NS-Zeit und schwenkte wieder auf ihren traditionellen Pfad um: „Die viele kleinen und mittelgroßen Unternehmen senkten die Ungleichheit.“
Mit der großen Bildungsexpansion in den Siebzigerjahren erreichte die Ungleichheit in den Achtzigern ihren tiefsten Punkt in den vergangenen 200 Jahren. So gleich waren die Einkommen der Deutschen nie wieder verteilt.
„Wenn alle besser gebildet sind, ist Bildung weniger wert.“
Seit der Globalisierungswelle nimmt die Ungleichheit bis heute ungebrochen zu. „Der Trend geht wieder hin zu größeren Unternehmen, und die Löhne von weniger qualifizierten Arbeitnehmern stehen weiterhin unter Abwärtsdruck“, sagt Baten. In anderen Ländern wäre der Druck allerdings noch größer. Dämpfend wirke hierzulande die gut funktionierende Kartellaufsicht. Zudem führe die Globalisierung nicht per se zu einer ungerechteren Einkommensverteilung, wie das skandinavische Beispiel zeigt.
Der gestiegene Wettbewerbsdruck durch die Öffnung der Arbeits- und Kapitalmärkte sei nur ein Faktor, der zu einer höheren Ungleichheit führe. Baten: „Sehr viel entscheidender für Deutschland ist, dass der Leistungsgedanke im Bildungssystem in den Siebzigern und Achtzigern phasenweise abhanden kam.“ Besonders schädlich sei das für die Schüler aus weniger bildungsnahen Elternhäusern gewesen.
Heutzutage haben in Deutschland so viele Menschen Zugang zu Bildung wie nie zuvor. Die Zahl der Abiturienten erreicht jedes Jahr neue Höchststände – die der Studenten ebenso. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es im vergangenen Jahr 370.000 Abiturienten. 2,6 Millionen studierten im vergangenen Wintersemester. Zu einer Trendwende in puncto Einkommensungleichheit hat die sogenannte Bildungsexpansion aber nicht geführt.
Mehr noch: Die Situation der Unterschicht hat sich seit 2003 verschlechtert. Das geht auch aus dem vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (.pdf) hervor. Aber nicht nur die Unterschicht ist betroffen – auch weite Teile der Mittelschicht. Laut Armutsbericht verfügen die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung nur über ein Prozent des gesamten Nettovermögens – die vermögensstärksten zehn Prozent vereinen die Hälfte auf sich.
Niedriglohnsektor trotz Hochschulabschluss
Der Blick auf die Einkommensverteilung ist nicht weniger erschreckend. Im Berechnungszeitraum gingen die Einkommen der unteren 60 Prozent der Gesellschaft zurück – die der oberen 30 Prozent stiegen. Die obersten zehn Prozent allein vereinen ein Fünftel des gesamten Einkommens auf sich. Die Schere öffnet sich weiter – trotz der Bildungsexpansion. Oder gerade deswegen?
„Wenn alle besser gebildet sind, ist Bildung weniger wert“, sagt Christoph Butterwegge, Armutsforscher an der Universität Köln. Das zeige die Inflationierung der Bildungszertifikate – der hohe Andrang an den Gymnasien und Universitäten habe nicht zur Folge, dass es mehr Arbeitsplätze gibt. Berufe, für die früher ein Hauptschullabschluss ausreichte, erfordern heute ein Fachabitur. „Das ist ein großes Problem für die Hauptschüler.“
Wo die meisten Millionäre leben
Spanien: 1 Prozent
In Spanien sind Hunderttausende ohne Arbeit – das Land kämpft immer noch mit den Nachwehen der Euro-Krise. Einige scheinen trotzdem Gewinne zu machen. Insgesamt 89.000 neue Millionäre verzeichnet Spanien. Insgesamt leben dort 465.000 Millionäre - das entspricht einem Prozent aller Millionäre weltweit.
Schweiz: 2 Prozent
Die Reichen bunkern nicht nur ihr Schwarzgeld in der Schweiz – viele leben auch dort. Insgesamt beherbergt die Schweiz 700.000 Millionäre.
Kanada: 3 Prozent
In Kanada leben 1.100.000 Millionäre, das sind 105.000 als im Vorjahr und drei Prozent aller Millionäre weltweit. Damit verzeichnet Kanada den siebtgrößten Millionärszuwachs weltweit.
China: 3 Prozent
China ist die größte Volkswirtschaft der Welt und verzeichnet rasante Wachstumsraten. Bei den Superreichen zeichnet sich das nur bedingt ab. Ganze acht Länder haben im vergangenen Jahr mehr Millionäre hervorgebracht. Trotzdem: 90.000 neue Millionäre können sich sehen lassen. Insgesamt gibt es in China 1.100.000 Millionäre.
Australien: 4 Prozent
In Australien lassen es sich mittlerweile 1.200.000 Millionäre gutgehen. Das sind 106.000 mehr als im Vorjahr.
Italien: 5 Prozent
Italien steckt immer noch in der Wirtschaftskrise. Das merken längst nicht alle Einwohner. 216.000 können sich dort als Neu-Millionäre bezeichnen. Italien beherbergt damit 1.500.000 Millionäre.
Deutschland: 6 Prozent
Deutschland legte kräftig zu: 243.000 Millionäre sind im vergangenen Jahr hinzugekommen, sodass heute 1.900.000 Millionäre hierzulande leben.
Frankreich 7 Prozent
Frankreich verzeichnet den drittgrößten Millionär-Zuwachs. 310.000 neue Millionäre kamen im Jahr 2014 hinzu, sodass nun 2.400.000 Millionäre das Leben in Frankreich genießen.
Japan: 8 Prozent
In Japan hat sich die Zahl der Millionäre binnen eines Jahres um 91.000 erhöht. Mittlerweile leben dort 2.700.000 Millionäre.
USA: 41 Prozent
2013 lebten in den USA noch 12.500.000 Millionäre – 2014 kamen eineinhalb Millionen hinzu, sodass die USA nun über 14.000.000 Einwohner mit über eine Millionen US-Dollar beherbergt.
Damit verzeichnen die USA auch den größten Millionärszuwachs weltweit - insgesamt lebt dort nahezu die Hälfte aller Millionäre.
Nicht nur denen fällt es schwer, Jobs zu finden. Jeder Zehnte, der im Niedriglohnsektor arbeitet, hat einen Hochschulabschluss – das geht aus Berechnungen des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen hervor (.pdf).
Butterwegge selbst ist ein sozialer Aufsteiger und der Beweis dafür, dass Bildung manchmal durchaus zum Aufstieg führen kann. Als Sohn einer alleinerziehenden Mutter war er auf dem Gymnasium ein Ausnahmefall. Nach dem Abitur studierte er, war danach lange arbeitslos, promovierte, habilitierte sich und wurde schließlich Universitätsprofessor – und damit ein Teil der einkommensstärksten zehn Prozent der Deutschen.
Die OECD fordert Deutschland auf, Erben stärker zu besteuern
In der höchsten Besoldungsstufe verdienen Professoren um die 5000 Euro pro Monat. „Ich hatte Glück“, sagt er. Sein sozialer Aufstieg lasse sich aber nicht von dem Gut Bildung ableiten. „Es war nur ein Zufall, dass meine Forschungsthemen, Rechtsextremismus und Armut, gerade gefragt waren.“
Aber Butterwegge sagt auch: „Bildung ist kein Gut an sich. Aus Bildungskapital wird nicht automatisch ökonomisches Kapital.“ Es sei wichtig, dass den Kindern von Hartz IV-Empfängern und Migranten die gleichen Bildungschancen eingeräumt würden wie denen der Mittelschichtsfamilien, damit sie im „geistigen Verteilungskampf“ eine Chance hätten. Aber das reiche nicht aus.
Deswegen stellt auch die OECD Forderungen an die Bundesregierung. In ihrem diesjährigen Wirtschaftsbericht (.pdf) rät sie Deutschland, die Einkommenssteuern und Sozialabgaben für Geringverdiener zu senken – dafür Immobilienbesitzer und Erben stärker zu besteuern.
Herrschen in Deutschland bald amerikanische Zustände?
„Sollte sich die Politik im OECD-Raum nicht ändern, könnten 2060 in vielen OECD-Ländern in etwa jene Einkommensunterschiede herrschen, wie sie heute schon in den USA zu sehen sind“, heißt es in dem OECD-Bericht. Die USA sind das Land mit der größten Ungleichheit unter den westlichen Nationen. Zu den Ländern, die etwas an ihrer Politik ändern müssen, zählt die OECD auch Deutschland.
Die Probleme, die mit der Ungleichheit einhergehen, haben sich in den vergangenen 200 Jahren nur bedingt geändert. „Typischerweise sind Gesellschaften mit einer hohen Ungleichheit Gesellschaften mit einer hohen Mordrate“, sagt Wirtschaftshistoriker Baten. Das spiegelt sich anhand der USA wieder: Gut fünf Morde pro 100.000 Einwohner geschehen hier – damit ist die Quote etwa fünf Mal so hoch wie in anderen westlichen Gesellschaften – und das ist nicht nur dem leichteren Zugang zu Waffen geschuldet.
Trotz der Mahnungen der OECD geschieht in Deutschland wenig. Im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt es, Deutschland gehöre „weiterhin zu den Staaten, in denen die Ungleichheit der Markteinkommen mit am stärksten durch Steuern und Sozialtransfers reduziert wird.“
Derzeit zahlen die oberen zehn Prozent der Einkommenssteuerpflichtigen 54,6 Prozent des gesamten Lohn- und Einkommensteueraufkommens – bei einem Anteil von rund einem Drittel am Gesamtbetrag der Einkünfte. Die untersten 50 Prozent zahlen 5,4 Prozent – bei einem Anteil von rund 16 Prozent am Gesamtbetrag der Einkünfte. Tragen die Reichen nicht also schon genug auf ihren Schultern?
„Ich möchte den Reichen nicht alles wegnehmen – aber sie stärker in die Pflicht nehmen“, sagt Butterwegge. Für ihn wären Einkommen ab 600.000 Euro beispielsweise mit einer Einkommenssteuer von 60 Prozent zu besteuern. „Dabei soll nicht das ganze Einkommen besteuert werden, sondern jeder Euro ab 600.000.“ Frankreichs Präsident François Hollande, hatte bei seinem Amtsantritt ähnliche Pläne. Umsetzen konnte er sie bis heute nicht.