Herr Goldschmidt, welchen Ruf hat Ludwig Erhard heute?
Einen exzellenten, er ist und bleibt das Gewissen der Sozialen Marktwirtschaft. Oder um es neudeutsch auszudrücken: Erhard ist in der Tat die Benchmark für alle Wirtschaftsminister. An ihm muss jeder Amtsinhaber sich messen lassen.
Auch wenn er nicht der alleinige Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft ist.
Das schmälert seine Leistung nicht. Er war kein Solo-Spieler. Erhard stützte sich auf Überlegungen, die Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Walter Eucken, Franz Böhm und insbesondere Leonhard Miksch entwickelt hatten – von letzterem stammt schließlich der Kern des Leitsätzegesetzes von 1948. Aber all das zusammenzuführen, zu popularisieren und dann politisch durchzusetzen war trotzdem eine Großtat.
Peter Altmaier, der amtierende Wirtschaftsminister, ist der erste CDU-Mann im Amt des Wirtschaftsministers seit Jahrzehnten. Ist es klug, sich so stark auf Erhard zu beziehen wie er es tut?
Warum sollte er das nicht? Ich habe den Eindruck, dass in den Parteien, auch und gerade in der CDU, wieder mehr über die grundsätzliche wirtschaftspolitische Programmatik und Ausrichtung debattiert wird. Das ist doch gut. Es ist allerdings wichtig, dabei auf den richtigen Erhard zu schauen.
Was meinen Sie mit „den richtigen“?
Erhard wird heute gerne zur Ikone verklärt – und „Wohlstand für alle“ gilt dann als eine Art Bibel, die nicht hinterfragt werden darf. Wer das tut, blendet aber aus, dass Erhard gar nicht der lupenreine Gralshüter der Ordnungspolitik war, zu dem ihn viele heute machen wollen. Er war Politiker durch und durch, er konnte taktisch agieren und verfügte als Wirtschaftsminister über ein meisterliches Aushandlungsgeschick. Wenn es darum ging, vorübergehende Härten seiner Reformen abzufedern – etwa mit dem Jedermann-Programm – konnte er sehr wohl den Pfad der reinen Lehre verlassen.
Anders gesagt: Die Soziale Marktwirtschaft war auch ein politisches Projekt, das von ihm deshalb immer auch politisch flankiert wurde?
So ist es.





Was denken Sie, wenn Sie heute Politiker oder Lobbyisten sagen hören: Erhard heute hätte dies oder jenes getan?
Dann schüttelt es mich. Man kann Erhard nicht Eins-zu-Eins auf heute übertragen. Wer so redet, läuft Gefahr, eine Karikatur aus ihm zu machen, um seine eigenen Positionen zu legitimieren. Fairerweise sei hinzugefügt: Mir ist es allemal lieber, wenn man sich auf Erhard beruft als auf den in diesen Tagen von manchen so gelobten Karl Marx. Aber doch bitte ohne die Absicht, Erhard lediglich dafür zu missbrauchen, politisches Terrain zu gewinnen.
Was kann man denn heute noch von ihm und seinem Werk lernen?
„Wohlstand für alle“ ist keine abgegriffene Formel, ganz im Gegenteil. Dass Wohlstand immer mehr sein sollte als reine materielle Versorgung, das war Erhard wichtig. Ein gutes Leben, sozial eingebettet und ökologisch nachhaltig, das ist entscheidend. Und: Den Imperativ, möglichst alle daran teilhaben zu lassen, kann man in der Gegenwart nicht genug betonen. Denken Sie nur an die Bildungspolitik, das unerreichte Ideal der Chancengerechtigkeit, an vererbte oder erkaufte Privilegien und an die Frage, wie wir Armut ganz konkret bekämpfen können. Der Mensch als Maß, die Wirtschaft als Mittel – diesen Erhard‘schen Leitgedanken halte ich für überaus zeitgemäß.
Nils Goldschmidt, 48, ist Professor für Kontextuale Ökonomik und Ökonomische Bildung an der Universität Siegen sowie Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft. Er studierte Volkswirtschaftslehre und Theologie an der Universität Freiburg.