Ökonomen-Analyse Die Mär von der Armutseinwanderung

Unions-Politiker, allen voran CSU-Innenminister Friedrich, warnen gerne vor Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Zu Unrecht, sagen Ökonomen. Tatsächlich kommen Leute, die Deutschland sogar dringend braucht.

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Polizeibeamte stoppen einen Bus bei Dresden. Seit der Erweiterung des Schengen-Raumes arbeiten die Beamten vor allem mobil in einem Umkreis von 30 Kilometer bis zur Staatsgrenze. Quelle: ap

Berlin Der Deutsche Städtetag hatte jüngst die Diskussion ausgelöst, als er in einem Positionspapier Bund, Länder und EU aufgefordert hat, sich intensiver mit der Armutszuwanderung von Menschen aus Bulgarien und Rumänien zu befassen. Hintergrund ist, dass vom 1. Januar 2014 an die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen in Europa gelten soll. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hat den Alarmruf der Kommunen vernommen und daraufhin entschieden, den Wegfall der Grenzkontrollen für die beiden Länder zu verhindern.

Als Gründe gab Friedrich zwar nicht die seiner Ansicht nach drohende Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme an, sondern Schwachstellen in den Ländern selbst, etwa im Bereich der Justiz, beim Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität. Dennoch ist das Thema Armutsmigration in aller Munde.

Der Städtetag hatte gar einen ganzen Katalog von Problemen aufgelistet, mit denen sich die Kommunen zum Teil heute schon konfrontiert sehen - und die sich verschärfen könnten. „Oft ist der Gesundheitszustand schlecht. Meist fehlt eine Krankenversicherung. Die Armutsflüchtlinge leben zum Teil in überfüllten Wohnungen und in verwahrlosten Immobilien, teilweise in sonstigen provisorischen Unterkünften“, klagte der Städtetag. „Fälle von Kriminalität, Bettelei und Prostitution führen zu Problemen in den Nachbarschaften.“

Um ihrer Sorge noch zusätzlich Nachdruck zu verleihen, führten die Kommunen in ihrem Papier noch Zahlen des Statistischen Bundesamts an. Die jährliche Zahl der Armutseinwanderer aus Rumänien und Bulgarien hat sich demnach im Zeitraum vom 2007 bis 2011 von 64.000 auf rund 147.000 mehr als verdoppelt; im ersten Halbjahr 2012 stieg die Zahl im Vergleich zum Vorjahr noch einmal um 24 Prozent. Das klingt alarmierend. Doch nach Einschätzung von Experten des rheinisch-westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) vermitteln die Zahlen allerdings ein „falsches Bild“ der Zuwanderung aus den beiden Ländern nach Deutschland.

Daten des Mikrozensus zeigten vielmehr, dass 80 Prozent der Menschen, die seit Beginn der EU-Mitgliedschaft im Jahr 2007 aus Rumänien und Bulgarien gekommen seien, einer Erwerbsarbeit nachgehen. Von diesen seien wiederum 22 Prozent hochqualifiziert und 46 Prozent qualifiziert. „Bei diesen Zuwanderern handelt es sich häufig um Menschen mit Berufen, die wir in Deutschland dringend benötigen“, schreiben die Experten in ihrer Kurzanalyse.


IZA-Chef: Deutschland-Blockade ist wirkungslos

Gleichwohl räumen auch die RWI-Forscher ein, dass auch Zuwanderung von Migranten ohne Schule und Berufsausbildung stattfinde, „die hier in prekären und teilweise menschenunwürdigen Verhältnissen leben und auf staatliche Hilfe angewiesen sind“. Die Freizügigkeit innerhalb der EU könne neben vielen Vorteilen eben auch dazu führen, dass arme Menschen nach Deutschland kämen, die das deutsche Sozialsystem belasteten. „Gerade in einer solchen Situation sollte man sich jedoch die Struktur der Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedstaaten genau ansehen, um daraus eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu entwickeln“, raten die Experten. „Eine pauschale Klassifizierung aller Zuwanderer aus diesen Ländern als Armutsmigranten, die das Problem der Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme übertreibt, schadet da nur.“

In diesem Zusammenhang hatte unlängst auch der Direktor des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus F. Zimmermann, die Politik zum Handeln aufgefordert. "Die unmittelbare Lösung ist simpel: Alle, die zu Arbeitszwecken einreisen, können soziale Leistungen erst nach einer Übergangsfrist dann beanspruchen, wenn sie zuvor längere Zeit gearbeitet haben und eine Krankenversicherung nachweisen können", sagte Zimmermann Handelsblatt Online. Menschen, die nicht aus Erwerbszwecken kämen, müssten ohnehin ausreichende Mittel zum Leben und eine Krankenversicherung nachweisen.

 "Mit einer strikten rechtlichen Klarstellung, dass es Wohlfahrtsmigration nicht gibt, ist der Spuk vorüber", betonte der IZA-Chef. Dies sei auch nötig, "da diese Debatte die erforderliche Flexibilität der europäischen Arbeitsmärkte gefährdet, die künftig noch mehr als bisher zu den Grundlagen unseres Wohlstandes gehört".

Von einer möglichen Aussetzung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgarien und Rumänien hält Zimmermann nichts. Die Bürger aus den beiden Ländern kämen bereits jetzt in großem Umfang auf legalen und illegalen Wegen. Seit 2006 sei der Zustrom "erheblich angestiegen" - aus langfristigen Motiven, aber auch aufgrund kurzfristiger Arbeitsverträge. "Würde man die lange hinausgeschobene Öffnung des Arbeitsmarktes jetzt aussetzen, kämen viele Migranten trotzdem und würden sich dann wie bisher eher in einer Grauzone der Illegalität und in Armutszirkeln einrichten", sagte der IZA-Chef. Dies würde die Lage eher noch verschlechtern.


Polizeigewerkschaft warnt vor Überlastung bei Grenzkontrollen

Zimmermann unterstrich die Notwendigkeit, jetzt Maßnahmen gegen Armutseinwanderung zu treffen auch damit, dass Migration seiner Einschätzung nach in Zukunft zu einem globalen Thema von "noch viel größerer Dimension" werde. "Hierauf muss sich die Politik völlig neu einstellen, wenn sie diesen Prozess verantwortungsvoll gestalten will", sagte der Ökonom. Deswegen gehöre dieses Thema auch ganz oben auf die europäische Agenda. "Davon kann bisher leider keine Rede sein."

Ganz oben auf der politischen Agenda ist das Thema jedoch inzwischen angekommen, aber wohl nicht in der Form, die Zimmermann vorschwebt. Im Gegenteil: Bei dem EU-Innenministertreffen in Brüssel warnte der deutsche Ressortchef Friedrich vielmehr vor den Folgen offener Grenzen. So könnten Nicht-EU-Bürger, die sich in Rumänien und Bulgarien aufhielten, von dort ohne Kontrolle in die EU weiterreisen: „Das hat etwas mit der Sicherheit unserer Bürger zu tun, und da kann es keine Kompromisse geben.“ Die Gewerkschaft der Polizei sagte ein „totales Zusammenbrechen der Grenzkontrollen an den Schengen-Außengrenzen“ voraus, falls Bulgarien und Rumänien jetzt schon aufgenommen würden.

Zudem warnte Friedrich vor einem Zustrom von Armutsflüchtlingen. Man müsse damit rechnen, „dass Menschen überall aus Europa, die glauben, dass sie von Sozialhilfe in Deutschland besser leben können als in ihren eigenen Ländern, nach Deutschland kommen. Diese Gefahr darf sich nicht realisieren.“ Mit der vollständigen Freizügigkeit 2014 könnte die Armutszuwanderung zunehmen.

Über dieses Thema beriet Friedrich mit seinen Kollegen aus Österreich, den Niederlanden und Großbritannien in kleiner Runde. Laut EU-Diplomaten registrieren Gemeinden in diesen Ländern derzeit immer mehr Ankömmlinge besonders aus Rumänien und Bulgarien. Beide Länder sind seit 2007 Mitglieder der Europäischen Union.


Rumänien und Bulgarien müssen liefern

Die Kritiker wollen nun abwarten, ob dort nun bald Fortschritte im Justizwesen sowie beim Kampf gegen Kriminalität und Korruption zu sehen sind. Der niederländische Justizstaatssekretär Fred Teeven nannte als Voraussetzung mindestens zwei positive Berichte der EU-Kommission: „Vor Dezember wird nichts passieren.“ Bundesinnenminister Friedrich sagte: „Wir machen weiter.“

Deutschland lehnt auch einen Beitritt Rumäniens und Bulgariens in zwei Stufen ab, den Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner vorschlug: „Das heißt, erster Schritt Öffnen der Seegrenzen und der Luftgrenzen, dann erst im zweiten Schritt Öffnung der Landgrenzen.“ Bulgariens Innenminister Tsvetan Tsvetanov versprach in Brüssel einen „konstruktiven, offenen und transparenten Dialog“.

Kritik kommt aus dem Europaparlament. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagte bereits am Mittwoch: „Wir sind eine Gemeinschaft des Rechts. Ich lehne politische Kriterien ab.“ Das mehrfache Verschieben der Aufnahme beider Länder sei „kontraproduktiv“.

1985 wurden die Schlagbäume zwischen den Schengen-Staaten abgeschafft. Im Schengen-Raum werden Grenzen nur noch stichprobenartig oder bei besonderen Ereignissen kontrolliert. Dazu gehören 26 Staaten: 22 EU-Länder sowie Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein.

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