Ökonomen zum Einheitsbericht „Dies ist eine Bedrohung für den Föderalismus“

In Deutschland besteht immer noch ein wirtschaftliches Ost-West-Gefälle und wenig Aussicht, dass sich die Lücke bald schließt. Führende Ökonomen sehen die Politik am Zug, um vor allem den schwächsten Regionen zu helfen.

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Zwischen Ost- und Westdeutschland bestehen auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung noch starke Unterschiede in der Wirtschaftskraft. Quelle: dpa

Berlin Ökonomen werten den Regierungsbericht für Ostdeutschland als Signal an die Politik, die schleppende wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern noch stärker in den Blick zu nehmen. Offenbar hätten viele Bürger im Osten das Gefühl, die vorherrschende Wirtschaftspolitik  nehme Interessen der breiten Masse nicht ernst. „In dieser Hinsicht besteht tatsächlich Handlungsbedarf“, sagte der Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Gustav Horn, dem Handelsblatt. „Die Wirtschaftspolitik muss deutlich machen, dass sie diese Interessen ernst nimmt“, betonte er. „Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt gilt es, den Interessen der Beschäftigten wieder mehr Gewicht zu verleihen und zum Beispiel höhere Löhne zu ermöglichen.“    

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnte, die Probleme hauptsächlich im Osten zu verorten. „Das zentrale Problem in Deutschland ist nicht ein Ost-West-Gefälle, sondern ein zunehmendes Nord-Süd-Gefälle, denn auch viele Regionen in Westdeutschland werden immer stärker abgehängt“, sagte Fratzscher dem Handelsblatt. Es gehe daher nicht um ein spezielles Problem Ostdeutschlands. Vielmehr würden die regionalen Unterschiede in Deutschland immer größer. „Dies ist eine Bedrohung für den Föderalismus“, warnte der DIW-Chef. „Die Politik wird immer weniger ihrer Verantwortung nach dem Grundgesetz gerecht, gleiche Lebensbedingungen für alle in Deutschland zu gewährleisten.“

Laut dem Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit, den das Kabinett am Vormittag gebilligt hat, bestehen zwischen Ost- und Westdeutschland auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung noch starke Unterschiede in der Wirtschaftskraft. Obwohl sich diese in den vergangenen Jahren weiter angenähert habe, habe der durchschnittliche Abstand im Jahr 2016 noch 27 Prozent betragen. Ohne Berlin seien es sogar 32 Prozent. Die Verringerung des Abstands bei der Wirtschaftskraft habe sich in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten „erheblich verlangsamt“.

Insgesamt lag das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner dem Bericht zufolge in Ostdeutschland im vergangenen Jahr bei 73,2 Prozent des westdeutschen Vergleichswerts. Wesentliche Gründe für die weiter bestehenden Unterschiede seien die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft und ein Mangel an Konzernzentralen großer Unternehmen. „So ist kein einziges ostdeutsches Unternehmen im Börsenleitindex Dax-30 notiert“, heißt es in dem Bericht.

Die Regierung befürchtet, dass die Globalisierung und der demografische Wandel regionale Unterschiede tendenziell verschärfen werden. Sie warnt zugleich, aus regionaler Strukturschwäche könnten sich Folgeprobleme für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft ergeben. „Gerade in den schwächsten Regionen, in denen sich Menschen abgehängt fühlen mögen, können gesellschaftliche Spaltungen bis hin zu radikalen Einstellungen entstehen.“ Ein regionaler Ausgleich leiste daher immer auch einen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.


„Weit verbreitetes Gefühl eines gesellschaftlichen Kontrollverlusts“

Fratzscher wies darauf hin, dass fast jede dritte Kommune in Deutschland finanzschwach sei und wegen hoher sozialer Ausgaben immer weniger Spielraum für notwendige Investitionen habe, um für Menschen und Unternehmen attraktiv zu bleiben. „Die Politik muss dieses Problem dringend adressieren“, forderte der Ökonom. Die jüngst beschlossene Reform des Bund-Länder-Finanzausgleichs werde die zunehmenden regionalen Unterschiede in Deutschland nicht verringern, fügte Fratzscher hinzu. Bund und Länder dürften vielmehr Finanzhilfen nicht mehr nach dem „Gießkannenprinzip“ vergeben, mahnte er, „sondern müssen viel gezielter regionale Strukturförderung unternehmen“.

Aus Sicht des Chefvolkswirts der Berenberg Bank, Holger Schmieding, lassen sich regionale Unterschiede innerhalb Deutschlands abfedern, indem überall ein gute öffentliche Infrastruktur einschließlich einer bürgernahen Verwaltung angeboten werde. „Da lohnen sich auch Zuschüsse für Gemeinden, damit die Angebote vor Ort aufrechterhalten werden können“, sagte Schmieding dem Handelsblatt. Kritisch sieht Schmieding in diesem Zusammenhang die vielen Gebietsreformen in Deutschland. „Kommunale Neugliederungen, die immer mehr Gemeinden zusammenfassen, sind oft eher kontraproduktiv, wenn sie längere Wege für Bürger bedeuten, um den Pass verlängern zu lassen oder das Auto umzumelden.“ Die Digitalisierung der Verwaltung könne hier „in Grenzen“ helfen. 

Andererseits seien auch „kluger regionaler Strukturpolitik“ Grenzen gesetzt. Der Trend, dass sich viele Menschen aus der Fläche zurückzögen und in attraktive Groß- und Mittelstädte mit ihrem Umland abwanderten, könne zwar gestaltet, aber wohl nicht aufgehalten werden. Die Sorge der Bundesregierung, dass sich vor diesem Hintergrund gerade in den schwächsten Regionen, in denen sich Menschen abgehängt fühlen, gesellschaftliche Spaltungen bis hin zu radikalen Einstellungen entstehen können, teilt Schmieding nicht. „Angesichts der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands sind bei uns die Gefahren einer weiteren Radikalisierung wesentlich geringer als in den meisten anderen Teilen der westlichen Welt“, sagte er.

Für IMK-Chef Horn resultiert die Radikalisierung in Teilen Ostdeutschlands aus einem „relativ weit verbreiteten Gefühl eines gesellschaftlichen Kontrollverlusts“ – bedingt durch die historischen Umwälzungen der vergangen Jahrzehnte und angeheizt durch den Flüchtlingsstrom, der Menschen mit fremdem Kulturhintergrund nach Deutschland gebracht habe. „Aber diese Fremdheit“, so die Einschätzung Horns“, „dürfte im Laufe der Zeit abnehmen und damit diese Wurzel der Radikalisierung schwächen.“

Die Ost-Beauftragte Iris Gleicke erklärte, das Wachstum in Ostdeutschland sei weiterhin auf flankierende Maßnahmen angewiesen, „jedenfalls dann, wenn die wirtschaftliche und soziale Angleichung in einem absehbaren Zeitraum realisiert werden soll“. Sie warnte zugleich vor falschen Urteilen über die neuen Bundesländer. „Die Menschen im Osten sind nicht fauler, und sie haben nicht weniger kluge Ideen als die im Westen.“

Gleicke verwies auf Erfolge wie die gesunkene Arbeitslosigkeit. Der Osten insgesamt habe fast die wirtschaftliche Stärke des EU-Durchschnitts erreicht: „Der Osten ist weder ein ödes Jammertal noch ist er ein blühendes Paradies. Es gibt Licht und Schatten, und es gibt noch jede Menge zu tun.“

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