Ökonomisierte Demokratie Wie ein Ökonom das politische System erneuern will

Hans Gersbach: So will der Ökonom das politische System erneuern Quelle: Illustration: Daniel Stolle

Ökonom und Regierungsberater Hans Gersbach will die Politikverdrossenheit bekämpfen. Er schlägt eine neue Demokratie vor: mit ökonomischen Anreizen, neuen Abstimmungsverfahren und Sanktionen gegen wortbrüchige Politiker.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Das papierlose Büro gehört offenkundig nicht zu den Zielen von Hans Gersbach. Im Dienstzimmer des 58-Jährigen an der Zürichbergstraße, zehn Minuten zu Fuß von der Züricher Altstadt entfernt, türmen sich Ordner und diverse Stapel mit Forschungsunterlagen. Damit er den Überblick behält, arbeitet der Schweizer Ökonom mit einem Farbsystem: In Ordnern mit rotem Aktendeckel ist mikroökonomisches Material abgeheftet, grün steht für Innovationspolitik, blau für Banken. Besonders spannend ist der Inhalt der gelb leuchtenden Ordner. In ihnen sammelt Gersbach Ideen und Papiere zum Thema Demokratiereform.

Demokratie? Ist das ein Thema für Ökonomen? Sind hier nicht eher Verfassungsjuristen und Soziologen gefragt? Gersbach ist fast empört über die Frage. Der Professor für Makroökonomie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich tüftelt mit einem halben Dutzend Kollegen seit Längerem daran, wie sich in Zeiten des Populismus die Akzeptanz des demokratischen Systems erhöhen lässt. Sein typisch wirtschaftswissenschaftliches Credo: „Es geht in der Politik wie in der Ökonomie um die richtigen Anreize.“ Im ersten Stock des ETH-Department of Management, Technology and Economics entwickeln die Wissenschaftler mithilfe mathematisch-statistischer Verfahren und Elementen der Spieltheorie Ideen für die Revitalisierung der Demokratie.

Bedarf gibt es zweifellos. Nach einer Umfrage von TNS Infratest im Auftrag der EU-Kommission ist jeder vierte Deutsche „nicht sehr zufrieden“ oder „überhaupt nicht zufrieden“ mit der Art und Weise, wie hierzulande die Demokratie funktioniert. In einer Onlineumfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa für das Magazin „Cicero“ gaben 2017 mehr als die Hälfte der 2000 Befragten an, Demokratieskeptiker zu sein. Und Forsa kommt zu dem Ergebnis, dass nur 42 Prozent der Deutschen glauben, das Volk habe wirklich etwas zu sagen.

Postdemokratische Gefühle? Wachsende Entfremdung von der politischen Klasse? Das muss nicht sein, findet Gersbach. „Bis vor wenigen Jahren haben wir Wissenschaftler gedacht, das demokratische System sei eine gegebene Größe und praktisch unveränderbar“, sagt der Ökonom, doch das stimme nicht: „Wir können die repräsentative Demokratie mit dem Instrumentenkasten der Ökonomen verbessern.“ Etwa durch neue Abstimmungsformen, mit denen „sich Verkrustungen des politischen Systems aufbrechen lassen – auch als Rezept gegen die wachsende Politikverdrossenheit“.

Theoretische Heimat solcher Vorstöße ist die Ökonomische Theorie der Politik, auch Public-Choice-Theorie genannt – keine Exotendisziplin, sondern durchaus ein Traditionsfach in den Wirtschaftswissenschaften. Schon 1957 entwickelte der US-Ökonom Anthony Downs in seinem Buch „An Economic Theory of Democracy“ ein Modell, das die klassische Nutzentheorie der VWL mit ihrem Maximierungskalkül auf die Politik überträgt. Die Idee: Analog zum Unternehmer, der seinen Gewinn maximiert (und quasi als Nebeneffekt mehr und bessere Güter produziert), will der Politiker Wählerstimmen maximieren – mit dem Nebeneffekt eines steigenden Angebots öffentlicher Güter. Kurzum, die Wähler übernehmen in der Politik die Rolle der Konsumenten auf Märkten. Und Wahlen sind der zentrale „Tauschplatz“ der Demokratie.

Daran knüpft Gersbach, der bis 2006 an der Universität Heidelberg lehrte, nun an. In einer noch unveröffentlichten Studie, die er mit Maik Schneider von der University of Bath erstellt hat, regt der Ökonom zum Beispiel verbindliche Coalition Preclusion Contracts (CPS) an. Durch diese „Verträge“ mit dem Wähler binden sich Parteien, keine Koalition mit einer bestimmten anderen Partei einzugehen – und vermitteln dem Wähler ihr „Marktangebot“ so klarer. Gersbach schickt seiner Studie ein Zitat der ehemaligen hessischen SPD-Chefin Andrea Ypsilanti voraus: „Es gibt keine irgendwie geartete Zusammenarbeit mit den Linken“, so Ypsilanti vor der Landtagswahl 2008 – bevor sie sie dann doch anstrebte.

"Verträge" mit dem Wähler

CPS-Modelle könnten bei der Abgrenzung gegenüber populistischen und extremen Parteien helfen, so Gersbach – die „Zertifizierung“ soll laut Studie eine „staatliche Autorität“ übernehmen, etwa der Bundespräsident. Die Studie, derzeit im Begutachtungsprozess eines führenden Journals für Spieltheorie, schlägt bei Verstößen gegen die Selbstbindung harte Sanktionen vor, etwa Einschnitte bei der staatlichen Parteienfinanzierung oder das Verbot, Parteivertreter in die Regierung zu entsenden. Für Gersbach ist es „eine Grundfrage der Demokratie, wie man mit gebrochenen Wahlversprechen umgeht“. Und das gilt nicht nur für die Koalitionsfrage, sondern generell für Wahlversprechen. „Die beste Medizin gegen bewusste Wählertäuschung wären Sanktionen gegen wortbrüchige Politiker“, glaubt der Ökonom. Auch hier könne man die Parteienfinanzierung an das Einhalten von überprüfbaren Wahlversprechen koppeln.

Möglich wäre auch, die Wiederwahl von Politikern an Bedingungen zu knüpfen. Ein ETH-Working-Paper von Gersbach nennt dies History-bound Reelection. In diesem Konzept darf ein Politiker bei einer Wahl sein bestes Ergebnis der Vergangenheit nicht deutlich unterschreiten – was tendenziell der Fall wäre, wenn er die Wähler getäuscht hat. Auf diese Weise soll zugleich der politische Wettbewerb intensiviert werden und die Gefahr sinken, dass sich Amtsträger auf ihrem Amtsbonus ausruhen.

Aktuell laufen in Zürich auch mehrere Forschungsprojekte zum sogenannten Co-Voting. „In repräsentativen Demokratien haben Mehrheit und Minderheit ihre Entscheidungskompetenz mit dem Wahlzettel abgegeben bis zur nächsten Wahl – das ist möglicherweise zu lang“, warnt Gersbach. Als Alternative schlägt er ein neues Abstimmungssystem vor.

Es sieht vor wichtigen Entscheidungen im Parlament eine repräsentative Beteiligung der Bevölkerung in Form einer Meinungsstichprobe vor: Die Auserwählten stimmen als Teilmenge der Wählerschaft ebenso wie das Parlament über das jeweilige Projekt ab. Die Resultate werden gewichtet und zu einem Endergebnis zusammengefasst. Bei einem knappen Ja im Bundestag und einem klaren Nein in der Bevölkerung wäre eine Vorlage gescheitert. Speziell für die Schweiz mit ihren starken plebiszitären Elementen schlägt Gersbach in seinem 2017 erschienenen Buch „Redesigning Democracy“ zudem ein Assessment Voting vor. Bei Volksabstimmungen soll zunächst eine Vorrunde mit einer begrenzten Zahl von Teilnehmern stattfinden. Gibt es dabei ein klares Ja oder Nein, könnte man auf die landesweite Abstimmung verzichten – und Kosten sparen.

Tendenz zur Wohlfühlgesellschaft

Wie realistisch sind die Vorschläge? Dass sich Parteien als privilegierte Träger der politischen Willensbildung für sie begeistern, ist wenig wahrscheinlich. Aber auch inhaltlich müssen sich die Demokratiereformer kritische Fragen gefallen lassen. Gersbach, der bereits in seiner Dissertation 1991 („Informationseffizienz bei Mehrheitsentscheidungen“) auf politökonomischen Pfaden wandelte, steht zwar mit Verfassungsjuristen in Kontakt, um die rechtliche Seite seiner Reformideen abzuklopfen. Allerdings könnten neodemokratische Verfahren auch nach hinten losgehen. Ein CPS-Modell etwa hätte das Rumeiern der SPD in der Koalitionsfrage wohl verhindert, allerdings stünde Deutschland dann womöglich noch immer ohne Regierung da. Hätten die Deutschen über die Hartz-Reform mitabstimmen dürfen, wäre sie vielleicht nie gekommen – und das deutsche Arbeitsmarktwunder auch nicht. Am Ende könnte die stärkere Einbindung der Wähler ins politische Tagesgeschäft dafür sorgen, dass notwendige Veränderungen ausgebremst werden.

„Diese Bedenken spielen eine große Rolle in der Forschung über neue Formen der Demokratie“, gesteht Gersbach. Doch nach den bisherigen Analysen überwiegen für ihn die Vorteile. Die Politik könne bei ihren Bürgern durchaus auch mit harten Versprechen punkten – wenn sie die Mehrwertsteuer oder die Schulden nicht erhöhen will oder konkrete Arbeitsmarktziele setzt.
Vielleicht sollten wir also Elemente der demokratischen Vitalisierung einfach mal ausprobieren. Ansprechpartner in höchster politischer Position hätte Gersbach durchaus: Der Schweizer ist seit 2015 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats im deutschen Bundeswirtschaftsministerium.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%