Es gibt Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die einem Bundesfinanzminister contre coeur gehen. Ein solches haben die Karlsruher Verfassungsrichter in diesem Sommer gefällt. Es geht um den Zinssatz von sechs Prozent, den der Fiskus seit Jahrzehnten bei Steuernachzahlungen (und -erstattungen) anwendet. Sechs Prozent sind in Zeiten von Niedrigst- und Negativzinsen völlig aus der Welt gefallen – das entschied auch das höchste Gericht. Doch Bundesfinanzminister Olaf Scholz scheut vor der raschen Umsetzung des Urteils zurück, das Millionen Bürger und Unternehmen betrifft. Nun will das Finanzministerium offenbar das Urteil nur zögerlich und restriktiv umsetzen – weil es den Bund und die Länder am Ende mehrere Milliarden Euro an Staatseinnahmen kosten könnte.
Zunächst bedürfe es einer „ausführlichen Diskussion“, erklärt Staatssekretärin Sarah Ryglewski (SPD) auf eine parlamentarische Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion. Zudem gelte das Urteil ausdrücklich nicht für andere Zinssätze, etwa bei Stundungen. Das stößt bei der FDP übel auf, die demnächst möglicherweise mit der SPD und den Grünen eine Regierungskoalition eingeht.
Von einer ärgerlichen Untätigkeit spricht die freidemokratische Finanzpolitikerin Katja Hessel, die auch Vorsitzende des Finanzausschusses ist. Dabei gebe es dringenden Handlungsbedarf über die Nachzahlungs- und Erstattungszinsen hinaus – nämlich auch bei den Stundungs-, Hinterziehungs-, Aussetzungs- und Rückstellungszinsen. Hessel sagte der WirtschaftsWoche: „Anscheinend will man die nächste Verurteilung durch das Bundesverfassungsgericht abwarten.“ Dies schaffe kein Vertrauen in den Gesetzgeber und die Steuerverwaltung. Aber auch die Tatsache, dass das Bundesfinanzministerium nach dem erwartbaren Urteil keine Auskünfte über die haushalterischen Auswirkungen geben wolle, sei erschreckend.
Die finanziellen Einbußen des Fiskus dürften sich bei einer Senkung der Verzugszinsen auf verspätete Steuerzahlungen mit knapp einer Milliarde Euro noch in Grenzen halten. Allerdings ist in Karlsruhe noch ein Verfahren zur sechsprozentigen Verzinsung von Pensionsrückstellungen anhängig, das die renommierte Kölner Steuerrechtlerin Johanna Hey für einen Bonner Unternehmer führt. Diesen Fall verfolgt das Scholz-Ministerium sehr genau. Der Grund: Jede Senkung des Rückstellungszinses um einen Prozentpunkt dürfte in den nächsten Jahren zunächst sechs Milliarden Euro jährlich Steuerausfall bedeuten, so interne Schätzungen im Bundesfinanzministerium.
Umgekehrt würden im gleichen Maße die Unternehmen profitieren, die ihren Mitarbeitern eine betriebliche Pension versprechen und die bei einem niedrigeren Steuerzins höhere (gewinnmindernde) Rückstellungen bilden könnten. Mit anderen Worten: Diejenigen Unternehmen, die sich besonders sozial gegenüber ihren Beschäftigten verhalten und eine auch gesellschaftspolitisch gewünschte zusätzliche Altersvorsorge finanzieren, werden seit Jahren von Staats wegen massiv benachteiligt. Und daran soll sich nach Ansicht des Scholz-Ministeriums am besten nichts ändern. Jedenfalls nicht aus eigenen freien Stücken. Sozial ist das offensichtlich nicht. Und es wäre ein Fall für die anstehenden Koalitionsverhandlungen.
Eine rasche Umsetzung der Karlsruher Entscheidung auf „ein realitätsgerechtes Zinsniveau“ fordert auch der Industrieverband BDI, samt „überfälliger Anpassung des Abzinsungssatzes bei Pensionsrückstellungen“. Dessen Steuerabteilungsleiterin Monika Wünnemann erklärt: „Die nächste Bundesregierung ist gefordert, zügig eine Neuregelung für die steuerlichen Nachzahlungs- und Erstattungszinsen zu schaffen.“ Auch müsse es eine Regelung geben, die sicherstellt, dass der Zinssatz auch in Zukunft realitätsgerecht ist. Das bedeutet: Bei einem veränderten Zinsniveau muss auch der steuerliche Zinssatz angepasst werden.
Mehr zum Thema: Neben den niedrigen Steuerzinsen, hat Olaf Scholz auch noch den Skandal um Cum-Ex zu bewältigen. Die Staatsanwaltschaft sucht nach Beweisen, warum die Warburg-Bank illegale Steuererstattungen zunächst behalten durfte. Für den SPD-Wahlsieger Olaf Scholz könnte es eng werden.