




Falls Joachim Gauck noch darüber nachdenken sollte, welches Thema er ins Zentrum seiner Antrittsrede am Freitag stellen will, er könnte getrost damit aufhören: Wer, wenn nicht ein aus Rostock stammender Bundespräsident, wäre der Richtige, um uns Bürgern zu schildern, was die Deutsche Einheit, was föderale Solidarität, mehr als zwanzig Jahre nach der Wende für einen Sinn und innere Bedeutung haben?
Gauck hat die Debatte um die vermeintlich blühenden Landschaften im Osten und die vermeintliche Wüste West ja selbst angestoßen. Er habe, sagte er nach seiner Wahl am Sonntag, in Nordrhein-Westfalen Zustände gesehen, die er aus Ostdeutschland nicht mehr kenne. Gauck lernt, dass seine Worte jetzt das Potenzial eines Schmetterlingsschlags haben können: Jederzeit kann daraus eine stürmische nationale Debatte entstehen.
Seitdem überbieten sich Bürgermeister aus NRW in ihrem Wehklagen über die katastrophalen Zustände ihrer Städte und darüber, dass die Transfers in die nicht mehr ganz so neuen Länder schuld daran seien. Die Äußerungen des Bundespräsidenten und die überraschende Landtagswahl im Mai haben den idealen Resonanzraum dafür geschaffen.
Die Forderungen, den Solidarpakt vor seinem Ende im Jahr 2019 zu reformieren oder gar zu kündigen, sind dabei so vorhersehbar wie folgenlos. Jeder Politiker von den Kommunen aufwärts bis in den Bund weiß, dass ein vorzeitiges Aufschnüren dieses Konvoluts extrem unwahrscheinlich ist, wenn nicht gar ausgeschlossen.
Verdeckte Wirklichkeit
Umso schmerzlicher, dass durch die Attacke West gegen das Paradies Ost immer nur verglichen, gemessen und gegeneinander in Stellung gebracht wird, was gerade eben für die Schlacht taugt. Herausgeputzte Jugendstilfassaden in Görlitz prunken gegen Schlaglöcher in Essen, ein sanierter Uni-Campus in Leipzig steht gegen Duisburger Abbruchhäuser. Damit wird nicht nur einfach mutwillig die halbe Wahrheit verbreitet, sondern vollumfänglich gelogen. Denn der Einzelfall ist immer dramatischer als Statistik und Durchschnitt, aber erst aus allen Einzelteilen gemeinsam ließe sich ein belastbares Gesamtbild formen. Der prompte Gegenangriff, eine morsche Brandenburger Alle mit der Düsseldorfer Kö zu kontern oder Mecklenburger Ödnis mit dem saturierten Münster, führt nur immer weiter in die vereinzelnde Verdummung.





Die Debatte, wie sie jetzt geführt wird, verdeckt die Wirklichkeit: Mehr als zwanzig Jahre nach der Wende geht es nicht mehr um Ost oder West. Es geht um arm und reich, gut oder schlecht regiert, es geht um Glanz und Resignation gleichermaßen. Die „gleichwertigen Lebensverhältnisse“, wie sie dem Grundgesetz vorschweben, sind eine Illusion – es fehlt mal hier und eben mal dort. Nur leider ist dieses Bild kein plakativer Skandal für Bild und Glotze.