Der Landgasthof „Zum Roß“ liegt nur wenige Schritte von der Elbe entfernt - mitten im malerischen Elbweindorf Diesbar-Seußlitz in Sachsen. Wenn Radler oder Wanderer am frühen Vormittag vorbeikommen, stehen sie allerdings vor verschlossener Tür: Nach Einführung des Mindestlohnes hat Chefin Gabriele Dörner die Öffnungszeiten verkürzt, zudem denkt sie in der Saison über einen Ruhetag nach. Das Schnitzel ist teurer als noch vor ein paar Monaten.
Personaleinsparung, verkürzte Öffnungszeiten, Preiserhöhung: „Mehr kann ich nicht machen, wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt die Gastwirtin. Wenn der Mindestlohn weiter steige, könne das kaum noch kompensiert werden. Dörner zahlt ihren Beschäftigten gern den Mindestlohn. „Aber der muss eben auch erwirtschaftet werden.“
Wie vielen Wirten in Ostdeutschland macht ihr nicht nur die Lohnuntergrenze zu schaffen, sondern vor allem das aus ihrer Sicht starre Arbeitszeitgesetz. „Die ersten Hausgäste frühstücken um sieben, Hochzeiten dauern bis spät in die Nacht. So viel Personal kann ich gar nicht einstellen.“
Bis Ende Juni soll eine Kommission darüber entscheiden, wie stark der Mindestlohn Anfang 2017 steigen soll. Derzeit liegt er bei 8,50 Euro pro Stunde. Noch herrscht Uneinigkeit. Wie Anfang 2015, als die Lohnuntergrenze eingeführt wurde: Gewerkschaften jubelten - Arbeitgeber und Wirtschaftsexperten warnten vor Entlassungen und einem Dämpfer für die Konjunktur.
Gut anderthalb Jahre nach Einführung ist der befürchtete massive Stellenabbau auch im Osten ausgeblieben - trotz Klagen vor allem von Wirten, Hoteliers, Landwirten oder Friseuren. Die Beschäftigung liegt auf Rekordniveau, die Wirtschaft ist stabil.
Viele Billigläden vom Markt verschwunden
Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) geht davon aus, dass insgesamt etwa 20 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland von der Einführung des Mindestlohnes betroffen sind, vor allem Mini-Jobber und Teilzeitbeschäftigte. Ähnliche Zahlen nannte auch mal das Statistische Bundesamt - etwa 22 Prozent in Ostdeutschland und knapp 9 Prozent im Westen.
Laut Statistik sank im September 2015 die Zahl der geringfügig Beschäftigten deutschlandweit um 3,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. In Ostdeutschland ging sie um sieben Prozent zurück. Gleichzeitig stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 687.900 Stellen (+2,2 Prozent).
Für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Grund zur Annahme, dass viele Mini-Jobs zu regulären Stellen wurden. „Insbesondere Frauen, Ungelernte, Beschäftigte in Dienstleistungsbranchen in Ostdeutschland profitieren vom gesetzlichen Mindestlohn“, sagt DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. So sind etwa die Löhne im Osten vom Juni 2014 bis Juni 2015 um rund neun Prozent gestiegen - im Westen fiel der Anstieg mit 2,5 Prozent geringer aus.
Sybille Hain, Landesinnungsmeisterin der Friseure in Thüringen und Sachsen-Anhalt, kann dem Mindestlohn durchaus positive Seiten abgewinnen: „Weil sich die Spreu vom Weizen trennt.“ Da niemand mehr Dumping-Löhne zahlen könne, seien viele Billigläden seither vom Markt verschwunden. Aktuell gibt es in Thüringen rund 1980 Friseure, in Sachsen-Anhalt sind es mehr als 2000. Hain geht davon aus, dass etwa 70 Prozent der Salons „massiv mit den Preisen hochgehen mussten“.
Das bekommen auch Kunden zu spüren, die mit dem Taxi unterwegs sind: In den sächsischen Großstädten Dresden, Leipzig und Chemnitz seien die Preise seit Einführung des Mindestlohns um etwa 20 Prozent gestiegen, berichtet Henry Roßberg, Vorsitzender des Landesverbandes Sächsischer Taxi- und Mietwagenunternehmer. Zudem gibt es nun mehr „weiße Flecken“ auf der Landkarte: Nachts oder in ländlichen Gebieten, wo nur wenige Fahrgäste unterwegs sind, lohnt es sich für die Taxiunternehmen kaum noch, Fahrer einzusetzen.
Ruhetag oder Stellenstreichungen
Ein Blick auf Statistiken des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, dass der bundesweit einheitliche Mindestlohn vor allem Betriebe im Osten betroffen hat: Allen voran Sachsen (30 bis 35 Prozent der Unternehmen), gefolgt von Thüringen und Sachsen-Anhalt (25 bis 30 Prozent), etwas weniger sind es mit 20 bis 25 Prozent in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Insgesamt scheinen die Unternehmen die Einführung des Mindestlohnes aber gut verkraftet zu haben. Das liegt nach Einschätzung des Ifo-Instituts in Dresden an der guten konjunkturellen Lage - und an den Firmen, die flexibel reagierten: Viele erhöhten ihre Preise, zögerten bei Investitionen und Neueinstellungen, kürzten Arbeitszeiten und Sonderzahlungen.
Vor der Einführung warnte das Ifo-Institut vor dem Verlust von bis zu 293.000 Arbeitsplätzen in den Ostländern. Panikmache? Ifo-Arbeitsmarktforscher Michael Weber spricht von „langfristigen Effekten“, die noch nicht abzusehen sind. Zudem müssten auch die Jobs eingerechnet werden, die durch den Mindestlohn eben nicht entstanden sind, weil sich die Betriebe mit Neueinstellungen zurückhalten. Allein in Sachsen geht das Ifo-Institut von rund 10.000 Stellen aus.
Gabriele Dörner ist Gastwirtin aus Leidenschaft - den Landgasthof in Diesbar-Seußlitz betreibt sie mit ihrer Familie in vierter Generation. Manchmal allerdings kommt sie an ihre Grenzen. Sie springt ein, wenn jemand fehlt und „die Bürokratie ist auch nicht weniger geworden“. Nicht selten arbeitet Dörner bis zu 16 Stunden am Tag. Rund 25 Mitarbeiter beschäftigt sie in der Saison. Noch überlegt sie, wie es weitergeht. „Wenn ich mich für einen Ruhetag entscheide, ist klar, dass wir nicht alle weiter beschäftigen können.“