Aus der Sicht der AfD ist die Beziehung nicht minder risikoreich. Zieht sie Teile der Elite auf ihre Seite, so gewinnt sie gesellschaftliche Vorbilder, die allein durch ihr Bekenntnis zu einer Partei viele andere Menschen zu einer ähnlichen Wahl bewegen könnten. Dem gegenüber steht für die AfD die Gefahr, selbst als Teil des Systems – und damit eben nicht mehr als „Alternative“ – wahrgenommen zu werden. Die Alternative würde zum Establishment.
Mit derlei Gratwanderungen kennt sich Stephan Werhahn gut aus. Der Enkel Konrad Adenauers versteht sich selbst als Gralshüter dessen Idee einer konservativen Partei, die Werhahn in erster Linie aus „Marktwirtschaft und Westbindung“ zusammensetzt. Mit der Partei, die sein Großvater einst mit gründete, ist er schon lange nicht mehr zufrieden. Vor vier Jahren wechselte er deshalb zu den Freien Wählern, kämpfte dort gar für eine Listenverbindung mit der AfD. Als das scheiterte, war auch Werhahn bald wieder weg. Mit der AfD von heute und ihrer zuwanderungsfeindlichen Rhetorik, sagt er, könne er zwar nichts mehr anfangen. „Dumpfe Parolendrescher“ seien das. Doch Werhahn räumt ein: Auch in seinem Umfeld gebe es immer mehr Menschen, die diese Option in Betracht zögen. Öffentlich darüber sprechen aber wolle kaum einer von ihnen.
Solche Fälle kennt auch Stephan Homburg dutzendfach. Er ist Professor für Steuerrecht an der Universität Hannover, hat einst zusammen mit Jörg Meuthen in Köln promoviert und ist heute das, was man im besten Sinne einen streitbaren Ökonomen nennt. 2014 ist er mal bei einem Bundesparteitag der AfD aufgetreten, angeschlossen hat er sich der Partei nie, so wie auch keiner anderen. „Wer wissenschaftlich ernst genommen werden will, der muss sich von der Politik fernhalten“, sagt Homburg.
Er sagt aber auch: „Eine Wahl der AfD ist inzwischen doch die einzige Möglichkeit, um zum Ausdruck zu bringen, dass man mit der aktuellen Politik nicht einverstanden ist.“ Obwohl viele das so sähen, kenne er keinen Einzigen in seinem akademischen Umfeld, der sich offen zur AfD bekenne. „Das Tabu, die AfD zu wählen, ist in den vergangenen Monaten größer geworden“, sagt Homburg, der dafür vor allem das aus seiner Sicht untragbare Spitzenpersonal verantwortlich macht.
Tabus, weiß das psychologische Lehrbuch, haben in sozialen Gruppen eine wichtige Funktion. Sie sanktionieren gruppenschädliches Verhalten, ohne hinterfragt werden zu müssen. So schützen sie die Gruppe davor, Handlungen zu dulden, die ihr selbst schaden. In diesem Sinne ist die Ausgrenzung rechtsradikaler Positionen in der deutschen Gesellschaft ein Tabu im nützlichsten Sinne. Die Geschichte beweist es.
Die Frage ist nur: Wurde dieses Tabu im Laufe der Jahre nicht so weit ausgedehnt, dass es an seinen Rändern hohl geworden ist? Oder anders: Wem nutzt die Tabuisierung zuwanderungsfeindlicher Positionen, die zwar inhaltlich fragwürdig sein mögen, aber dennoch ein gutes Stück entfernt von der Verfassungsfeindlichkeit liegen? Im Moment vor allem der AfD.