Herr Manow, am Anfang Ihres aktuellen Buches schreiben Sie: „Wer über den Populismus reden will, aber nicht zugleich auch über den Kapitalismus, landet meist nur bei der Identitätspolitik.“ Was stört Sie an der Identitätspolitik?
Sie bietet einen nicht allzu ergiebigen Zugang zum Phänomen Populismus. Identitätspolitik beschränkt sich meist auf Rituale wechselseitiger Verächtlichmachung: Man wirft einander die unterschiedlichen Gruppenidentitäten an den Kopf. Dahinter steckt die Annahme: Komische Menschen mit komischen Einstellungen folgen Populisten, also müssen wir die schlechten Einstellungen durch gute ersetzen, etwa durch mehr politische Bildung oder Aufklärung. Wäre dem so, wäre mehr Sozialpädagogik die Lösung. Aber ich denke, das geht am Kern des Problems vorbei.
Sie verstehen Populismus als einen Protest gegen die Globalisierung. Was spricht für diese Sichtweise?
Die Globalisierung hat in den vergangenen 20 Jahren eine enorme Intensivierung erlebt, insbesondere in Europa. Die Osterweiterung der EU hat die Verlagerung von Produktionsstandorten erleichtert, die Freizügigkeit innerhalb der EU hat den Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten intensiviert. Hinzu kommt der Aufstieg Chinas zu einem ökonomischen Schwergewicht, das die verschiedenen Volkswirtschaften extrem unter Druck setzt. Entsprechend der Politischen Ökonomien der einzelnen Staaten lassen sich unterschiedliche Stressreaktionen beobachten.
Meine Hauptthese geht zurück auf den Harvard-Ökonom Dani Rodrik. Er unterscheidet zwei Formen der Globalisierung. Zum einen die Globalisierung von Gütern und Geld, die sich über Grenzen bewegen, zum anderen die Globalisierung von Personen, die sich über Grenzen bewegen. Ich knüpfe an Rodriks These an, dass populistischer Protest tendenziell eher linksgerichtet ist, wenn die grenzüberschreitende Bewegung von Gütern und Geld für Politische Ökonomien ein Problem darstellt – das ist in Südeuropa und Südamerika der Fall. Der populistische Protest ist eher rechtsgerichtet, wenn die grenzüberschreitende Bewegung von Personen problematisiert wird, wie in Deutschland, in Nordeuropa, aber auch in den USA.
Worauf führen Sie diese Unterschiede zwischen Norden und Süden zurück?
Auf die unterschiedlichen Politischen Ökonomien. Prototypisch für Kontinentaleuropa steht Deutschland, aber auch Skandinavien, Österreich oder die Niederlande zählen dazu. Diese Länder sind exportorientiert und sehr wettbewerbsfähig – deswegen haben sie mit einem harten Währungsregime kein Problem, sondern profitieren davon sogar, weil sie so den internen Preisdruck unter Kontrolle bringen. Zudem verfügen sie über sehr großzügige und offene Wohlfahrtsstaaten, die diese Art der Außenwirtschaft abfedern. Demgegenüber steht das südeuropäische Modell, das sehr viel stärker auf der Binnennachfrage fußt und deswegen Verschuldungsmöglichkeiten braucht.
Damit ist auch Währungssouveränität nötig, um über Währungsabwertungen Wettbewerbsmängel zu kompensieren, die aus dieser Art des Wirtschaftens erwachsen. Auch in diesen Staaten gibt es einen großzügigen Wohlfahrtsstaat, aber der ist deutlich weniger zugänglich. Während der Euro-Krise ab 2010 sahen wir, dass Südeuropa unter Stress geriet, weil notwendige Währungsabwertungen innerhalb des Euro-Regimes nicht möglich waren. Während der Flüchtlingskrise ab 2015 geriet das kontinentaleuropäische Modell aufgrund der Migration unter Druck.
„Über den Populismus als Problem zu reden ist oft eine Art, über ihn als Problemsymptom nicht reden zu müssen“, schreiben Sie. Inwiefern sehen Sie die Kritik der AfD an der Migrationspolitik der Bundesregierung gerechtfertigt?
Ich habe nicht vor, Positionen der AfD zu verteidigen. Aber aus sozialwissenschaftlicher Perspektive erscheint es zumindest erklärungsbedürftig, warum wir in Europa Rechts- und Linkspopulisten sehen, oder in Nordamerika Donald Trump und zugleich Justin Trudeau, oder in Südamerika Maduro und Bolsonaro. Empirisch ist kaum zu bestreiten: In Ländern, in denen wir relativ zugängliche und großzügige Wohlfahrtsstaaten haben, wie Deutschland oder der Schweiz, wird Migration von Teilen der Bevölkerung als problematisch wahrgenommen und der rechtspopulistische Protest verfängt elektoral. Ich glaube, dahinter steckt ein sehr trivialer Zusammenhang.
„Für großzügige Wohlfahrtsstaaten ist Migration eine offene Flanke“
Nämlich?
Für einen großzügigen Wohlfahrtsstaat ist Migration immer eine Art offener Flanke. Anhand des Umkehrschlusses lässt sich das deutlich machen: Die meisten Politikwissenschaftler erklären die Tatsache, dass der Wohlfahrtsstaat in den USA nicht so großzügig ist wie in europäischen Ländern damit, dass er in einer Migrationsgesellschaft entstand. Genau so, wie eine stark von Migration geprägte Gesellschaft Probleme hat, einen generösen Wohlfahrtsstaat zu konstruieren, so hat ein Land mit sehr generösem Wohlfahrtsstaat ein Problem mit ungeregelter Zuwanderung.
Wer sind die Menschen, bei denen das Migrationsthema elektoral verfängt?
Laut der Modernisierungsverlierer-These müssten es die Menschen sein, die prekär beschäftigt sind, die im unteren Lohnsegment des Dienstleistungssektors arbeiten: Aufstocker, Ein-Euro-Jobber, Hartz-IV-Empfänger und so weiter. Allerdings ist das empirisch nicht haltbar, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern. Stattdessen zeigen die Umfrageergebnisse: Die Wähler der Populisten sind in den kontinentaleuropäischen Ländern vor allem Arbeitsmarktinsider, nicht die Outsider.
Die exportorientierten Branchen, in denen sie tätig sind, würde es ohne die Globalisierung nicht geben. Sie sind die Profiteure der Außenhandelsöffnung, sehen allerdings auch, dass ihr Status prekärer geworden ist. In Deutschland hat die Agenda 2010 dafür gesorgt, dass Menschen binnen zwölf Monaten von Arbeitsmarktinsidern zu Arbeitsmarktoutsidern werden können und auf die Grundsicherung zurückfallen, die auch Flüchtlingen zusteht. Viele empfinden das als eine manifeste Gerechtigkeitslücke. Dazu passt, dass sich anhand der Daten ein stabiler Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit im Jahr 2000 und dem Erfolg der Rechtspopulisten 2017 feststellen lässt, während die aktuelle Arbeitslosigkeit keinen relevanten statistischen Effekt hat. Sie ist ja parallel zum Aufstieg der AfD stark gesunken.
Es sind also nicht diejenigen, die sich schon abgehängt wähnen, sondern diejenigen, die noch etwas zu verlieren haben. Haben die Hartz-Reformen den Grundstein für das Erstarken der Populisten in Deutschland gelegt?
Wir vergessen leicht, dass die Hartz-Reformen mal die Antwort für ein veritables Problem waren. Deutschland war konfrontiert mit Massenarbeitslosigkeit, 2005 waren fast 12 Prozent der Erwerbsbevölkerung ohne Arbeit, in vielen Fällen über sehr lange Zeit. Heute sind wir bei einem Wert von 5,3 Prozent. Vielleicht müssen wir konstatieren, dass jede Lösung neue Probleme hervorruft. In Kombination mit der Transformationskrise seit den Neunzigerjahren in Ostdeutschland und der Flüchtlingskrise 2015 haben der erhöhte Druck, zurück in den Arbeitsmarkt zu müssen, und der Rückbau der Absicherung starken Unmut und Ressentiments produziert. Damit müssen wir heute umgehen.
Bis dato ist das nicht allzu gut gelungen?
Ich denke, dass die deutsche Debatte über das Phänomen des Populismus weitgehend vermurkst ist. Hier spielt auch ein West-Ost-Paternalismus eine Rolle. Die Westdeutschen erklären den Ostdeutschen, dass sie ihre Kränkungen falsch verarbeiten. In diesem Jahr stehen drei Landtagswahlen im Osten an, es ist nicht unmöglich, dass die AfD in Sachsen stärkste Partei wird. Das zeigt, so denke ich, wie tiefgreifend die Verwerfungen sind.
Was auffällt: In Ihrem Buch bieten Sie keine politischen Ratschläge oder Handlungsanweisungen.
Das hat zwei Gründe. Zum einen denke ich, bevor wir uns an die Therapie machen, brauchen wir erst einmal eine gute Diagnose. Aufseiten der Wissenschaft gibt es beim Phänomen des Populismus noch keinen akzeptierten Forschungsstand. Mein Vorschlag lautet, die Politischen Ökonomien stärker in den Blick zu nehmen. Meine Kollegen, die vermuten, Populisten werden vor allem von Menschen gewählt, die gegen die Liberalisierung der Gesellschaft seit Anfang der Siebzigerjahre kämpfen, haben ihre Gründe – die Debatte hält also an.
Der zweite Grund beruht auf der Arbeitsteilung: Ich weiß nicht, ob ich ein guter Politikwissenschaftler bin, aber ich weiß, dass ich ein schlechter Politiker wäre. Ich biete Erklärungen an, bin aber froh, dass ich nicht die Entscheidungen eines Politikers treffen muss.