Philip Manow „Die deutsche Populismus-Debatte ist vermurkst“

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„Für großzügige Wohlfahrtsstaaten ist Migration eine offene Flanke“

Nämlich?
Für einen großzügigen Wohlfahrtsstaat ist Migration immer eine Art offener Flanke. Anhand des Umkehrschlusses lässt sich das deutlich machen: Die meisten Politikwissenschaftler erklären die Tatsache, dass der Wohlfahrtsstaat in den USA nicht so großzügig ist wie in europäischen Ländern damit, dass er in einer Migrationsgesellschaft entstand. Genau so, wie eine stark von Migration geprägte Gesellschaft Probleme hat, einen generösen Wohlfahrtsstaat zu konstruieren, so hat ein Land mit sehr generösem Wohlfahrtsstaat ein Problem mit ungeregelter Zuwanderung.

Wer sind die Menschen, bei denen das Migrationsthema elektoral verfängt?
Laut der Modernisierungsverlierer-These müssten es die Menschen sein, die prekär beschäftigt sind, die im unteren Lohnsegment des Dienstleistungssektors arbeiten: Aufstocker, Ein-Euro-Jobber, Hartz-IV-Empfänger und so weiter. Allerdings ist das empirisch nicht haltbar, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern. Stattdessen zeigen die Umfrageergebnisse: Die Wähler der Populisten sind in den kontinentaleuropäischen Ländern vor allem Arbeitsmarktinsider, nicht die Outsider.

Die exportorientierten Branchen, in denen sie tätig sind, würde es ohne die Globalisierung nicht geben. Sie sind die Profiteure der Außenhandelsöffnung, sehen allerdings auch, dass ihr Status prekärer geworden ist. In Deutschland hat die Agenda 2010 dafür gesorgt, dass Menschen binnen zwölf Monaten von Arbeitsmarktinsidern zu Arbeitsmarktoutsidern werden können und auf die Grundsicherung zurückfallen, die auch Flüchtlingen zusteht. Viele empfinden das als eine manifeste Gerechtigkeitslücke. Dazu passt, dass sich anhand der Daten ein stabiler Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit im Jahr 2000 und dem Erfolg der Rechtspopulisten 2017 feststellen lässt, während die aktuelle Arbeitslosigkeit keinen relevanten statistischen Effekt hat. Sie ist ja parallel zum Aufstieg der AfD stark gesunken.

Es sind also nicht diejenigen, die sich schon abgehängt wähnen, sondern diejenigen, die noch etwas zu verlieren haben. Haben die Hartz-Reformen den Grundstein für das Erstarken der Populisten in Deutschland gelegt?
Wir vergessen leicht, dass die Hartz-Reformen mal die Antwort für ein veritables Problem waren. Deutschland war konfrontiert mit Massenarbeitslosigkeit, 2005 waren fast 12 Prozent der Erwerbsbevölkerung ohne Arbeit, in vielen Fällen über sehr lange Zeit. Heute sind wir bei einem Wert von 5,3 Prozent. Vielleicht müssen wir konstatieren, dass jede Lösung neue Probleme hervorruft. In Kombination mit der Transformationskrise seit den Neunzigerjahren in Ostdeutschland und der Flüchtlingskrise 2015 haben der erhöhte Druck, zurück in den Arbeitsmarkt zu müssen, und der Rückbau der Absicherung starken Unmut und Ressentiments produziert. Damit müssen wir heute umgehen.

Bis dato ist das nicht allzu gut gelungen?
Ich denke, dass die deutsche Debatte über das Phänomen des Populismus weitgehend vermurkst ist. Hier spielt auch ein West-Ost-Paternalismus eine Rolle. Die Westdeutschen erklären den Ostdeutschen, dass sie ihre Kränkungen falsch verarbeiten. In diesem Jahr stehen drei Landtagswahlen im Osten an, es ist nicht unmöglich, dass die AfD in Sachsen stärkste Partei wird. Das zeigt, so denke ich, wie tiefgreifend die Verwerfungen sind.

Was auffällt: In Ihrem Buch bieten Sie keine politischen Ratschläge oder Handlungsanweisungen.
Das hat zwei Gründe. Zum einen denke ich, bevor wir uns an die Therapie machen, brauchen wir erst einmal eine gute Diagnose. Aufseiten der Wissenschaft gibt es beim Phänomen des Populismus noch keinen akzeptierten Forschungsstand. Mein Vorschlag lautet, die Politischen Ökonomien stärker in den Blick zu nehmen. Meine Kollegen, die vermuten, Populisten werden vor allem von Menschen gewählt, die gegen die Liberalisierung der Gesellschaft seit Anfang der Siebzigerjahre kämpfen, haben ihre Gründe – die Debatte hält also an.
Der zweite Grund beruht auf der Arbeitsteilung: Ich weiß nicht, ob ich ein guter Politikwissenschaftler bin, aber ich weiß, dass ich ein schlechter Politiker wäre. Ich biete Erklärungen an, bin aber froh, dass ich nicht die Entscheidungen eines Politikers treffen muss.

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