Philosoph Konrad Paul Liessmann "Wer keine Ahnung von Geschichte hat, dem hilft auch Wikipedia nicht weiter"

Seite 2/3

"Selbst Grundkenntnisse abendländischer Kultur fehlen"

Wie unterscheiden sich die Studenten, die heute an die Uni kommen, von den früheren?

Ich will das nicht pauschalisieren. Nicht alle sind prinzipiell ungebildeter. Viele können heute zum Beispiel besser Fremdsprachen als vor 20 oder 30 Jahren. Ein gewisses Maß an Kompetenzorientierung gerade im Sprachunterricht ist auch durchaus sinnvoll. Aber ich wehre mich dagegen, dass man das allen Fächern überstülpt. Vor allem jenen Fächern, in denen es nicht um Fähigkeiten, sondern um Inhalte geht. Ein Geschichtsunterricht, in dem keine historischen Ereignisse mehr vorkommen, ist kein Geschichtsunterricht.

Müssen Sie Ihren Erstsemester-Studenten also zunächst mal erklären, wer Kant und wer Hegel waren?

Selbst die großen Namen der Geistesgeschichte kann man nicht mehr als bekannt voraussetzen. Man muss ihnen oft sogar erklären, wer Adam und Eva waren, weil selbst Grundkenntnisse der abendländischen Kultur fehlen.

Dafür gibt es, könnte man einwenden, heute Google und Wikipedia. 

Wenn sie bei Google etwas finden, fehlt ihnen aber oft das Wissen, um es richtig einzuordnen. Wer überhaupt keine Ahnung hat von jüdisch-biblischer Geschichte, dem hilft auch der Wikipedia-Artikel über König David so gut wie gar nicht. Die Studenten stöhnen auch schon, wenn sie einen Ausschnitt von 20 Seiten lesen sollen. Neugierde darauf, wie ein Gedanke in einem Text entwickelt wird, gibt es nicht mehr. Sie wollen gleich das Ergebnis haben, möglichst knapp und effizient. Das entspricht dem Zeitgeist der Unbildung: Keine geistigen Ressourcen verschwenden. Es gibt aber keinen Geist ohne Verschwendung!

Ein akademisches Studium also, das ganz nach ökonomischen Kriterien ausgerichtet ist. 

Deswegen drehen sich viele Debatten über Bildungsinhalte um die Frage: Werden die Schüler das in 15 Jahren noch brauchen? Dabei ist jeder anmaßend, der beurteilen zu können glaubt, was wir in 15 Jahren noch anwenden werden. Wir wissen das ebenso wenig, wie man vor 15 Jahren wusste, was wir heute brauchen.

Was sollte stattdessen ein Kriterium für das Lehrangebot sein?

Ich plädiere für die Vermittlung jenes Wissens, von dem man ahnen kann, dass es sich nicht so bald überlebt, weil es schon bisher die Zeiten überdauert hat. Ich bin nicht so sicher, ob man den frisch gekürten Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano in 200 Jahren noch lesen wird. Aber ich bin ziemlich sicher, dass man Sophokles und Shakespeare in 200 Jahren noch lesen wird.

Vorbilder der Studenten: Vater, Mutter und Angela Merkel
Was den Studenten persönlich besonders wichtig ist73 Prozent der Befragten gaben an, dass Familie für sie an erster Stelle steht - gefolgt von Freunden und einem hohen Lebensstandard. Freizeit und Sport halten 17 Prozent für besonders wichtig. Der berufliche Erfolg hat nur bei 15 Prozent einen hohen Stellenwert. Damit blieben soziale Faktoren weiterhin deutlich wichtiger als Karriere und Geld. Quelle: Fotolia
Studentendemo Quelle: dpa/dpaweb
Foto junger Mann zeigt Daumen hoch Quelle: Fotolia
Foto Eltern im Kreis, Ansicht von unten Quelle: Fotolia
Foto von Angela Merkel Quelle: AP
Junger Mann mit fragendem Gesicht Quelle: Fotolia
Handschlag zwischen Chef und seinem neuen Angestellten Quelle: Fotolia

Erzeugt eine von der Ökonomie beherrschte Gesellschaft Unbildung oder ist es umgekehrt: Macht erst die wachsende Unbildung die allgemeine Ökonomisierung möglich?

Beides schaukelt sich gegenseitig auf. Es gehört schon ein gerütteltes Maß Unbildung dazu, in quantifizierenden Verfahren wie PISA einen Fortschritt zu erkennen. Bei vielen dieser Leute fehlt eine Idee von Bildung. Die haben einfach keine Ahnung. Viele Humboldt-Kritiker haben ihn nie gelesen.

Gehört zu den negativen Folgen der Ökonomisierung auch die Zunahme privater Schulen und Hochschulen?

Meine Sorge betrifft nicht die Frage, wer Bildungsinstitutionen finanziert. Das können Private genauso wie der Staat. Mir geht es um diese Scheinökonomisierung durch die Einführung künstlicher Wettbewerbe mit Vergleichstests. Man tut so, als seien Schulen und Universitäten Dienstleistungsunternehmen. Das sind sie natürlich nicht. Man tut so, als seien Studenten Kunden. Das sind sie natürlich nicht. An einer richtigen Universität sind alle mehr oder weniger Mitglieder einer Lern-, Lehr- und Forschungsgemeinschaft. Wir stülpen also dem, worum es geht und was gemacht wird, Begriffe über, die nicht angemessen sind. Wenn man dann mit Regeln aus der Wirtschaft kommt, die ganz andere Zwecke haben, knirscht es an allen Ecken und Enden. Dann kommen perverse Ergebnisse heraus.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%