Wenn es vier Monate vor der Bundestagswahl überhaupt noch jemanden gibt, der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Fürchten lehrt, dann nicht Peer Steinbrück, der Kandidat der SPD, sondern Carl-Heinz Schütte, 58, Bankkaufmann aus Friedrichsdorf bei Bad Homburg. Nicht seiner 196 Zentimeter Körpergröße wegen. Auch nicht, weil Schütte ein Steilthesen-Bestseller gelungen wäre, der neuerdings die Talkshow-Republik bewegte. Nein, einen wie Schütte drängt es nicht ins Rampenlicht. Einem wie Schütte geht es um Arbeit und Disziplin. Um Ordnung und um den Dienst an der Sache. Um die „Organisation des gesunden Menschenverstands“, wie er es nennt. Carl-Heinz Schütte ist seit drei Wochen Hauptgeschäftsführer der Alternative für Deutschland (AfD), der erste Angestellte der Anti-Euro-Partei, ihr institutionelles Herz und Wahlkampfgetriebe. Ohne Schütte wird es nichts mit der AfD in den nächsten 17 Wochen.
Ohne Schütte keine Mitgliederverwaltung, keine Terminorganisation, keine Marktplatzauftritte, keine Wettbewerberbeobachtung – und kein Wahlerfolg am 22. September.
Ja, vielleicht gäbe es ohne Schütte in ein paar Wochen nicht einmal mehr die AfD. Denn kaum sind die frühlingshaften Wochen des medialen Spontaninteresses, der Gründungseuphorie und des ruckartigen Mitgliederwachstums verflogen, schon ist die junge Partei in ihre erste Krise geraten. Zwei Sprecher des Landesverbandes in Berlin traten, kaum waren sie gewählt, von ihren Ämtern zurück. Ein Parteitag in Bayern versank wegen heftiger Personalquerelen im Chaos. Die Listenaufstellung in Niedersachsen mit Spitzenkandidat Bernd Lucke wurde angefochten und muss wiederholt werden. Und als wäre das alles noch nicht genug, machte auch noch ein AfD-Landesvize mit Sympathien für Weltkriegs-General Erwin Rommel von sich reden.
Die wichtigsten Köpfe in der AfD
Professor, Gründer des Plenums der Ökonomen
Der 51-Jährige wurde bei Gründung der AfD ihr Sprecher. Der Vater von fünf Kindern lehrt Makroökonomie an der Universität Hamburg. Über 300 Wissenschaftler schlossen sich seinem „Plenum der Ökonomen“ an, das als Netzplattform Wirtschaft erklärt. Nach 33 Jahren trat Lucke Ende 2011 aus der CDU aus. Er trat als Spitzendkandidat der AfD für die Europawahlen an und wechselte im Sommer 2014 nach Brüssel.
Anwältin, Gründerin der Zivilen Koalition
Die Juristin, die zunächst 2012 Mitglied der FDP war, ist seit 2013 Mitglied der AfD. Sie wird dem rechtskonservativen Flügel der Partei zugerechnet. Sie engagiert sich neben der Euro-Rettung vor allem für eine christlich-konservative Familienpolitik. Am 25. Januar 2014 wurde von Storch vom Bundesparteitag der AfD in Aschaffenburg mit 142 von 282 Stimmen auf Platz vier der Liste zur Europawahl gewählt - und zog anschließend ins Europaparlament ein.
Emeritierter Professor für Volkswirtschaft
Im Kampf gegen den Euro hat er die größte Erfahrung: 1998 klagte er gegen dessen Einführung vor dem Bundesverfassungsgericht, 2011 gegen die Rettungsmaßnahmen. Der 72-Jährige, einst Assistent von Alfred Müller-Armack, führt den wissenschaftlichen Beirat der AfD – so etwas hat keine andere Partei.
Promovierte Chemikerin und Unternehmerin
Nach dem Studium gründete die Mutter von vier Kindern 2007 ihr eigenes Chemieunternehmen Purinvent in Leipzig – mit dem Patent auf ein umweltfreundliches Dichtmittel für Reifen. Sie fürchtet, ihre demokratischen Ideale würden „auf einem ideologisierten EU-Altar geopfert“. Seit 2013 ist sie eine von drei Parteisprechern und Vorsitzende der AfD Sachsen
Journalist, Publizist, Altsprachler und Historiker
Bei den bürgerlichen Blättern – 21 Jahre im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen“, sieben Jahre als politischer Chefkorrespondent der „Welt“ – erwarb er sich den Ruf als konservativer Vordenker. Sozial-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik sind auch im Sprecheramt der AfD seine Schwerpunkte.
Beamter, Politiker, Herausgeber, Publizist
Der promovierte Jurist leitete die hessische Staatskanzlei unter CDU-Ministerpräsident Walter Wallmann. Dann Geschäftsführer und Herausgeber der „Märkischen Allgemeinen“ in Potsdam. Führte die brandenburgische AfD bei den Landtagswahlen zu einem überraschend starken Ergebnis und führt nun die Fraktion im Landtag an.
Das Hauptproblem der AfD aber ist, dass sie den sensationellen Zulauf von Sympathisanten nicht produktiv zu kanalisieren versteht – und dass die anfängliche Begeisterung ihrer Anhänger daher in Reizbarkeit und Enttäuschung umzuschlagen droht. Das größte Kapital der AfD, der Enthusiasmus einer politischen Fangemeinde, die hochemotional-professorensachlich gegen die angebliche Alternativlosigkeit der Euro-Rettungspolitik aufbegehrt, erweist sich zugleich als größte Hypothek der AfD: Als Partei der Überzeugungstäter ist sie immer auch eine Partei der Besserwisser.
1200 Überläufer von der Union und je 600 von FDP und SPD, die allesamt ein Stück ihres politischen Lebens aufgegeben haben, einige Spitzenköpfe der Freien Wähler, dazu jede Menge Nichtwähler, die meinen, endlich eine politische Heimat gefunden zu haben – kein Wunder, dass in der AfD Flügelkämpfe beginnen, noch bevor es was zu verteilen gibt.
Viel zu viele AfD-Mitglieder, die die provisorische Geschäftsstelle in Bad Nauheim in den vergangenen Wochen mit Büchern, Aufsätzen, ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und selbst verfassten Versen überhäuft haben, fühlen sich berufen, was zu werden, weil sie das mit dem Euro, Europa und Frau Merkel immer schon, früher und besser gewusst haben – und sich endlich mit Anerkennung, Ämtern und Mandaten belohnt sehen wollen. „Wir müssen schwer aufpassen, dass der Ämtereifer unserer Mitglieder die Partei nicht lähmt“, sagt Schatzmeister Norbert Stenzel. Und Matthias Lefarth, ein Überläufer von der FDP, der sein Berliner Sprecheramt nach sechs Tagen entnervt niederlegte, warnt: „Wenn jeder nur an seinem Strang zieht, wird das nichts.“
Einfluss auf den Wahlausgang
Auch deshalb hat Carl-Heinz Schütte jetzt in Berlin-Charlottenburg ein Büro bezogen, hoch oben, im 15. Stock eines Bürokomplexes. Es ist nicht gerade die schönste Gegend rund um den Kurfürstendamm, auch nicht das schönste Haus, links davon duckt sich eine Kik-Filiale weg, rechts ein Edeka, gleich gegenüber, hinter dem Peugeot-Händler und der Freien Tankstelle, rauscht die S-Bahn vorbei, aber was soll’s: Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft der frisch aus dem Vorstand der Berliner AfD vergraulten Parteifreundin Annette Goldstein gewährt vorübergehend Unterschlupf, zum Nulltarif, versichert Schütte, da kann man nicht meckern: drei mal sieben Meter, zwei Schreibtische, ein Drucker, ein Telefon, zwei verspiegelte Schrankwände – Platz genug für Schütte und seinen Stellvertreter Georg Metz. So sieht sie also aus, die Parteizentrale der AfD. Und vor denen soll Angela Merkel sich fürchten?
Seit der Niedersachsen-Wahl am 20. Januar schon. Damals verpassten CDU und FDP die Mehrheit im Landtag, weil ihnen ein paar Hundert Stimmen fehlten – Stimmen, die die Piraten (2,1 Prozent) und die Freien Wähler (1,1 Prozent) einheimsten, die damals mit Bernd Luckes Wahlalternative, einem Vorläufer der AfD, kooperierten. Die Wahl in Niedersachsen hat gezeigt, dass Urnengänge in Deutschland vor allem unberechenbar werden. Die Anziehungskraft der beiden Volksparteien ist dahin. Das politische Angebot vergrößert sich laufend (siehe Grafik). Und immer neue, kleine Parteien wie die Piraten und neuerdings die AfD demonstrieren, dass sie das gemütliche Gleichgewicht der etablierten Kräfte mit strengem Sachthemenbezug und mit der Mobilisierung von politikverdrossen Engagierten blitzschnell zu stören verstehen.
Ihr politisches Grundkapital verdanken AfD und Piraten der Ignoranz und Machtarroganz der arrivierten Kräfte. Die Piraten sammelten junge Menschen ein, die kein Verständnis hatten für die umfassende Verständnislosigkeit der Politik in Internet-Fragen. Und die AfD wird nun zur Heimat derer, die sich verhohnepipelt fühlen von einem Politikbetrieb, der milliardenschwere Gesetze durchs Parlament peitscht. Der Kritikern des Regierungskurses das Rederecht entzieht. Der Staatsschulden kontinentweit vergemeinschaftet. Der den Preis des Geldes manipuliert. Der die Ersparnisse der Deutschen aufs Spiel setzt. Und der, nicht zuletzt, die Erhaltung des einheitlichen Währungsraumes mit einer abenteuerlichen Zirkelschlusslogik begründet: Europa muss gerettet werden, weil Europa gerettet werden muss.
Die Anti-Euro-Thesen der „Alternative für Deutschland“
Wir fordern eine geordnete Auflösung des Euro-Währungsgebietes. Deutschland braucht den Euro nicht. Anderen Ländern schadet der Euro. (Quelle: Parteiprogramm)
Wir fordern die Wiedereinführung nationaler Währungen oder die Schaffung kleinerer und stabilerer Währungsverbünde. Die Wiedereinführung der DM darf kein Tabu sein.
Wir fordern eine Änderung der Europäischen Verträge, um jedem Staat ein Ausscheiden aus dem Euro zu ermöglichen. Jedes Volk muss demokratisch über seine Währung entscheiden dürfen.
Wir fordern, dass Deutschland dieses Austrittsrecht aus dem Euro erzwingt, indem es weitere Hilfskredite des ESM mit seinem Veto blockiert.
Wir fordern, dass die Kosten der sogenannten Rettungspolitik nicht vom Steuerzahler getragen werden. Banken, Hedge-Fonds und private Großanleger sind die Nutznießer dieser Politik. Sie müssen zuerst dafür geradestehen.
Wir fordern, dass hoffnungslos überschuldete Staaten wie Griechenland durch einen Schuldenschnitt entschuldet werden. Banken müssen ihre Verluste selbst tragen oder zu Lasten ihrer privaten Großgläubiger stabilisiert werden.
Wir fordern ein sofortiges Verbot des Ankaufs von Schrottpapieren durch die Europäische Zentralbank. Inflation darf nicht die Ersparnisse der Bürger aufzehren.
Selbst wenn Piraten und AfD am 22. September die Fünf-Prozent-Hürde nicht nehmen sollten – ihr Einfluss auf den Wahlausgang könnte beträchtlich sein. Nimmt man die jüngste Umfrage zum Maßstab, würde immerhin jeder siebte Wähler im September seine Stimme umsonst abgeben – und Merkels Erfolgsunion stünde allein im Bundestag gegen eine Phalanx aus SPD, Grünen und Linken. In der Union fordern vor allem Konservative deshalb endlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD – sehr zum Verdruss von Angela Merkel, die sich daran gewöhnt hat, mit gezielter Wählereinschläferung relative Mehrheiten zu gewinnen. Merkel vertraut darauf, dass die meisten Deutschen vor allem Ruhe wünschen. Ihr Prinzip ist es deshalb, keine Prinzipien zu verfolgen und den politischen Raum durch die Verbannung von Fantasie, von Ideen und verbindlichen Zielen gleichsam leerzusaugen. Die etablierte politische Konkurrenz hat Merkel damit sehr erfolgreich ausgelaugt. Doch die Präsenz von AfD und Piraten zeigt, dass Merkels Versuch, Deutschland zum politischen Vakuum zu degradieren, auf Dauer misslingen muss. Bei beiden Parteien handelt es sich nicht um Sammelbecken für Politikverdrossene, sondern im Gegenteil um Protestparteien, die mit guten Gründen gegen die Entpolitisierung Deutschlands und die Zynismen des parlamentarischen Betriebs rebellieren.
Bernd Lucke ist sich daher sicher, dass die AfD in den Bundestag einzieht, „mit Pauken und Trompeten“ sogar. Der Parteichef der AfD ist heute in Berlin, er sitzt in einem Café nahe des Brandenburger Tores und empfängt Journalisten zu durchgetakteten Dreiviertelstundengesprächen. Gerade verabschiedet sich der Publizist Henryk Broder: „Bleiben Sie am Ball. Lassen Sie sich nicht unterkriegen.“ Lucke lacht. Nein, das hat er nun wirklich nicht vor. Lucke spricht schnell, fest und ungeduldig, er nickt eifrig in Fragen hinein, um seine Antworten schneller loswerden zu können, sein ganzer Körper wirkt gespannt, wie von Adrenalin durchströmt: Er war zu Gast bei Maybrit Illner und Anne Will, er streitet sich in der „FAZ“ mit Dennis Snower, dem Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, seine AfD wird von Peer Steinbrück als „hochgefährlich“ eingestuft und treibt Außenminister Guido Westerwelle (FDP) „die Zornesröte“ ins Gesicht.
Geklärte Verhältnisse
Bernd Lucke hat in den vergangenen Wochen erheblich an Bedeutung gewonnen. Und so sprudelt es aus ihm heraus: Die Zahl der Mitglieder steigt weiterhin. Querelen gibt es in Findungsphasen immer. Jeder weiß, was auf dem Spiel steht. Die Geschäftsführung wird jetzt straff organisieren. Und er selbst schaltet in den Wahlkampfmodus: Raus aus dem Euro, klar, aber es wird auch um Bildung, Steuern, Rente gehen: „Warten Sie’s ab.“ Lucke hat Großes vor und keinen Zweifel am Gelingen. Die Landeswahllisten stehen bald, sagt er. Die 2000 Unterstützer-Unterschriften werden am 15. Juli pünktlich vorliegen. Das Parteivermögen ist siebenstellig. Zuletzt hat Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Chef des Industrieverbandes BDI, 6600 Euro überwiesen – „unser Rekord bisher“, sagt Schatzmeister Stenzel stolz.
Vor allem aber hält Lucke das schwierige Verhältnis zu den Freien Wählern für geklärt: „Die machen Politik lokal, konkret, vor Ort. Wir kümmern uns um Bundespolitik, Europa und die großen Fragen.“ So gesehen hatte sich Stephan Werhahn nur vorübergehend verirrt. „Ich bin zurück in der CDU“ – und da fühlt er sich auch zu Hause. Als Werhahn, ein Enkel Konrad Adenauers, sich Mitte 2011 den Freien Wählern (FW) anschloss, war er so etwas wie das Bundesgesicht der Regionalpartei: Er trommelte gegen die Euro-Rettung und sollte als Spitzenkandidat in den Bundestagswahlkampf ziehen. Doch nach der Niedersachsen-Wahl überwogen die Zweifel, „weil ich sah, was mein Engagement bedeutete: Ein Sieg für Rot-Grün – das war das Letzte, was ich gewollt hatte“. Werhahn glaubt, dass die AfD als eine Art Erbin der Freien Wähler im Bund vor großen Problemen stehe: Viele Anhänger würden sich spätestens am Wahltag abwenden, um Merkel zu retten und Trittin zu verhindern.
Werhahn sollte es wissen. Er kennt das Personal der AfD gut, hat an der Seite von FW-Parteichef Hubert Aiwanger den Versuch einer Verschmelzung mit Luckes AfD ausgelotet. Vor allem ist sein Ein-, Auf- und Ausstieg ein Musterbeispiel für die Gefahren, die bürgerlichen Partei-Parvenüs drohen: Tod durch Nähe zum Rechtspopulismus – oder durch Intrige, Hybris, Eitelkeit.
Werhahn hatte es sich 2012 zur Aufgabe gemacht, möglichst viele Ortsvereine der FW hinter sich zu versammeln. Deshalb tingelte er übers Land, deshalb machte er Station in Düsseldorf. Was er nicht bedacht hatte: Einige der Ratsleute, die dort für die FW im Stadtrat saßen, hatten vor langer Zeit für die Republikaner gearbeitet. Als das einer ehemaligen Mitarbeiterin von Aiwanger zu Ohren kam, war Werhahns Karriere gelaufen. Die Frau hatte eine Rechnung mit Aiwanger offen und lancierte eine Pressemitteilung: Werhahn kooperiert mit Rechtsextremen. Aiwanger distanzierte sich. Und Werhahn stand allein da.
Das Entstehen der AfD
Gründung des „Plenums der Ökonomen“ durch VWL-Professor Bernd Lucke. Ziel: Aufklärung über die Gefahren der Euro-Rettungspolitik.
Das Plenum spricht sich mit großer Mehrheit gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) aus.
Gründung „Bündnis Bürgerwille“. Unterschriftenaktion für geordnete Staatsinsolvenzen. Unterstützer (u. a.): Bund der Steuerzahler, zahlreiche Bundestagsabgeordnete aus Union und FDP.
Gründung der Wahlalternative 2013. Kooperation mit Freien Wählern. Credo: Deutsche Steuerbürger haften nicht für die Schulden europäischer Staaten.
Niedersachsen-Wahl. Freie Wähler/ Wahlalternative erreichen 1,1 Prozent. Führungsstreit.
Gründung der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD). Ziel: Einzug in den Bundestag. Programm: die geordnete Auflösung des Euro-Währungs- gebietes.
Erste öffentliche Veranstaltung in der Stadthalle Oberursel / Hochtaunuskreis. 1300 Besucher.
Gründungsparteitag in Berlin. Vierseitiges Wahlprogramm. Dreiköpfiges Sprecherteam.
Zahl der Mitglieder übersteigt 10.000. Gründung und Aufbau der Landesverbände.
Bestellung von zwei hauptamtlichen Geschäftsführern. Aufbau einer Mitgliederverwaltung. Vorbereitung eines ordentlichen Parteiberichts.
Nachweis von mindestens 2000 Unterstützer- Unterschriften pro Bundesland. Sonst keine Zulassung zur Wahl.
Bundestagswahl. Ziel: zweistelliges Ergebnis.
Auch die Kooperation zwischen Freien Wählern und dem AfD-Personal scheiterte. Aiwanger und Lucke – „das sind zwei Alphamännchen, die nicht Vize sein können“, sagt einer, der die beiden im Zwiegespräch erlebt hat. Die Trennung von FW und AfD, von der vor allem die Lucke-Partei profitiert, empfinden daher letztlich beide Seiten als Befreiung. Warum auch nicht? Die FW zählen auf lokaler Ebene 260.000 Mitglieder. Sie stellen im bayrischen Landtag rund ein Zehntel der Abgeordneten. Ihre Stärke besteht in regionaler Kompetenz. Eine einheitliche Linie zu bundespolitischen Themen ist schwer herzustellen. Der Großteil des Geldes wird in Bayern umgeschlagen. Aiwanger spricht unverkennbar das Idiom des Voralpenraums... – bei so viel weißblauer Färbung fällt es den FW schwer, in Währungsfragen neben einem VWL-Professor aus Hamburg zu bestehen. Entsprechend groß war der Aderlass der Partei in den ersten Wochen nach der AfD-Gründung. Entsprechend groß ist aber zugleich auch das Selbstbewusstsein, als Vor-Ort-Verbund langfristig zu bestehen: „Uns wird es noch geben, wenn Piraten und erst recht die AfD längst Geschichte sind“, sagt Bayerns FW-Vize Michael Piazolo.
Abwegig ist der Gedanke nicht. Die Geschichte der Piraten zeigt, dass der politische Senkrechtstart das eine ist – und ein dauernder Höhenflug etwas ganz anderes. Nach dem Einzug in das Berliner Abgeordnetenhaus 2011 heimste die Internet-Partei Wahlerfolge bei drei Landtagswahlen ein, bewegte sich bundesweit im zweistelligen Umfragehoch, verdreifachte ihre Basis auf fast 35.000 Mitglieder. Doch das schnelle Wachstum erwies sich als ungesund. Im vergangenen Jahr traten 4000 Piraten aus, bis zu 3000 weitere will Piraten-Chef Bernd Schlömer als Karteileichen demnächst aussortieren. Zwei von drei Piraten haben trotz permanenter Aufforderung noch keinen Beitrag gezahlt. Und die fehlenden Eigenmittel schlagen doppelt böse zu Buche: 2,1 Millionen Euro standen den Piraten 2012 aus der Parteienfinanzierung zu. Doch weil der Anteil an eigenen Einnahmen so gering ausfiel, musste der Staat bloß 792.500 Euro überweisen.
Grenzen des Wachstums
Vielleicht noch schwerer wiegt die programmatische Selbstaufzehrung. Das zeigte sich exemplarisch vor wenigen Wochen beim jüngsten Parteitag. Dort warben Spitzenpolitiker für die Einführung einer Ständigen Mitgliederversammlung (SMV), also eine Art permanenten Online-Parteitag. Ergebnis: Die SMV wird es nicht geben. Was es gibt, immerhin: Künftig können die Piraten nicht nur an der Urne oder per Briefwahl, sondern auch online über Änderungen des Parteiprogramms abstimmen. Aber wie so ein Hybrid aus analog und digital funktionieren soll – „das habe ich ehrlich gesagt bis heute nicht verstanden“, sagt der Berliner Pirat Christopher Lauer. Für so manchen Freibeuter ist das Scheitern des SMV-Verfahrens beinahe gleichbedeutend mit dem Scheitern der Partei. Denn was bei der Konkurrenz eine bloße Strukturfrage wäre, trifft die Piraten in der Substanz: Neben den Inhalten wird hier eine Methode gewählt. Scheitert die Organisation einer liquiden Partei, die sich mit den Mitteln der Schwarmintelligenz ständig selbst verfeinert, entziehen sich die Piraten gleichsam ihren Selbstauftrag.
Die Grenzen des Wachstums haben die Piraten aber nicht nur ereilt, weil ihre Netz-Prozess-Politik an institutionelle Grenzen stößt, sondern auch, weil sie als Freizeitpolitiker schlicht überlastet sind. Die frühere Geschäftsführerin Marina Weisband wechselte sich bereits nach einem knappen Jahr aus – Selbstdiagnose: ausgebrannt. Wichtige Spitzenpiraten gehen tagsüber normalen Berufen nach – und betreiben Politik in ihrer Freizeit. „Ich habe eine 80- bis 100-Stunden-Woche“, sagt Schlömer, Beamter im Bundesverteidigungsministerium: Tags dient er dem Land, abends der Partei. Erschwerend hinzu kommt der Anspruch der Piraten, besonders transparent und laienoffen zu sein. Schlömer hält montags eine Sprechstunde im Netz ab. Fraktionssitzungen werden online übertragen und ins Netz gestellt – und die Dauerdiskussionen auf Twitter führen dazu, dass die Partei sich wahnsinnig gerne um sich selbst dreht. Viele stehen das auf Dauer nicht durch, entsprechend oft wechselt das Führungspersonal. Auch Schlömer wird den Job nicht ewig machen: „Es wird auch wieder Zeiten geben, in denen ich mich in einen Biergarten setzen kann.“
Für Bernd Lucke ist ein Bier im Garten dieser Tage in etwa so verlockend wie ein Griechenland im Euro-Raum. Der Professor liest dienstags an der Hamburger Uni Wachstumstheorie und Makroökonomie, stottert seine Überdeputate ab und hat sich teilweise beurlauben lassen – das alles, um aus den Fehlern der anderen zu lernen. Beispiel Internet: Während sich die Piraten mit ihrer Netzkompetenz zu Tode twittern, tummeln sich AfD-Mitglieder in den Echoräumen von „Spiegel“, „Süddeutsche“, „FAZ“, „Handelsblatt“ und WirtschaftsWoche – und schlagen dort so auffällig viel Lärm, dass sich Millionen von Lesern ihren Argumenten gar nicht entziehen können. Freilich, eine Erfolgsgarantie ist damit nicht verbunden: Viele Kommentare sind abstoßend. Und vorerst verharrt die AfD in Umfragen bei zwei bis drei Prozent.
Ob Lucke schon mal mit Gabriele Pauli gesprochen hat? Auch die ehemalige CSU-Politikerin hat sich einmal den Freien Wählern angeschlossen. Auch sie geriet mit FW-Chef Aiwanger aneinander. Auch sie gründete daraufhin eine eigene Partei: die Freie Union. Auch sie erhielt in der Gründungseuphorie überwältigend viel Zuspruch: 2000 Mitglieder in zehn Tagen. Trotzdem reichte es bei der Bundestagswahl 2009 zu gerade einmal 6000 Stimmen. Der Rest war Schweigen.
„Mehr Struktur, eine starke Organisation, eine straffe Führung“ – so würde Pauli es heute machen. Und so macht es die AfD. „Ich bin der Transmissionsriemen“, sagt Geschäftsführer Carl-Heinz Schütte, „ich muss die Kraft unserer Argumente, die Leidenschaft unserer Mitglieder, die Wissenssubstanz unserer Freunde jetzt auf die Straße bringen.“ Schütte ist sich sicher, dass die „zügellose Energie nicht gezähmt, aber kanalisiert werden muss“, und zwar von oben nach unten. Einer habe das Sagen, und das sei der Bundesvorstand um Bernd Lucke. Der Rest müsse sich unterordnen, ihm zuarbeiten, ihm helfen, 17 Wochen lang, rund um die Uhr. Danach könne man weitersehen. Klingt ziemlich autoritär? „Klingt ziemlich nach Erfolg“, sagt Schütte.