Piraten, Freie Wähler & Co. Der jähe Absturz der Partei-Neulinge

Ob Piraten oder Freie Wähler: Die meisten Parteien haben ihren Gründungserfolg nicht verkraftet. Auch bei der AfD macht sich Ernüchterung breit.

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Die größten Euro-Gegner
Hans-Olaf Henkel war Industrie-Chef und sieht Europa durch den Euro bedroht. Die aktuelle Krisenbewältigung schränke die Demokratie in den Eurostaaten erheblich ein. Henkel hofft auf ein Einlenken der Bundeskanzlerin. "Die Bereitschaft der Deutschen, weitere Griechenland-Rettungspakete und demnächst Portugal und Italien zu finanzieren, ist weniger verbreitet als die Bereitschaft, die Kernenergie zu unterstützen. Das heißt: Wenn Angela Merkel beim Euro eine Art Fukushima-Effekt erlebt, dann traue ich ihr zu, blitzschnell den Kurs zu ändern", sagte Henkel im Interview mit der WirtschaftsWoche. Quelle: AP
Der Ökonom und Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Hans-Werner Sinn hält viele Euro-Mitgliedsländer für nicht wettbewerbsfähig. Er plädiert für einen Ausschluss Griechenlands aus der Währungsunion und warnt eindringlich vor einer Bankenunion und Eurobonds. Im vergangenen Jahr hat er einen Brandbrief von rund 200 deutschen Ökonomen mitunterzeichnet. Innerhalb der Bundesregierung hat er sich damit keine Freunde gemacht. Doch das wird Sinn nicht stören. Einer, der den ifo-Chef gut kennt sagte, "Sinn würde zu seinen Thesen stehen, auch wenn andere daran zweifeln". Bevor Sinn sich und seine Thesen präsentiert, bereitet er sich stundenlang vor und feilt an seinen Formulierungen. Quelle: dapd
Alexis Tsipras ist Vorsitzender des griechischen Links-Bündnisses "Syriza" und der mächtigste Kritiker der griechischen Regierung. Er ist strikt gegen das Sparprogramm, das sein Land mit den internationalen Geldgebern verhandelt hat. Sein jüngster Vorschlag: Die griechische Regierung solle schlichtweg die Gespräche mit der Troika (IWF, Europäische Kommission und Europäische Zentralbank) verweigern. Die fortschreitende Privatisierung von Staatsbetrieben will Tsipras eigenen Worten zufolge "kriminalisieren". Die griechische Regierung soll im Eiltempo öffentliche Unternehmen verkaufen. Bei der Wahl im vergangenen Jahre erreichte seine Partei 17 Prozent der Stimmen und wurde zweitstärkste Kraft im Land. Umfragen sehen Tsipras inzwischen noch stärker. Quelle: dapd
Peter Gauweiler ist CSU-Politiker und profiliert sich vor allem als Euro-Skeptiker. Er stimmt gegen den Eurorettungsschirm und möchte die "Grenzüberschreitung" bei den europäischen Verträgen verhindern. Gauweiler war Mitkläger gegen die Euro-Hilfen, die vom Verfassungsgericht aber bestätigt wurden. Der CDU-Politiker befürchtet, dass sich die Ereignisse bei den Rettungsversuchen "überschlagen". Deshalb wisse er auch nicht, ob Angela Merkel selbst am Rettungsschirm weiterhin festhalten werde. Quelle: dpa/dpaweb
Silvio Berlusconi ist Unternehmer und ehemaliger italienischer Ministerpräsident. Bei den Parlamentswahlen in Italien holte er fast 30 Prozent der Stimmen und konnte so eine linke Regierung verhindern. Berlusconi punktete im Wahlkampf mit dem Versprechen, die Sparprogramme seines Vorgängers Mario Monti rückgängig zumachen. Auch für seine populistischen Thesen gegen den Euro erhielt er Applaus. Den Euro zu verlassen, sei keine Blasphemie, sagt Berlusconi. Quelle: REUTERS
Timo Soini ist Mitglied des Europaparlaments und Präsident der Partei "Basisfinnen". Sie lehnt Finanzhilfen für Griechenland ab. Mit seiner Euro-skeptischen Haltung weiß Soini viele seiner Landsleute hinter sich. In Finnland wächst die Sorge, dass die wohlhabenden Länder Europas den Süden dauerhaft alimentieren müssen.
Der Chef der rechtspopulistischen niederländischen Partei für die Freiheit (PVV) Geert Wilders hat sich erfolglos am Euro abgearbeitet. Er geißelte die Sparregeln als "ein Diktat Brüssels", an denen sich jedes Land kaputtspare. Doch bei den Wahlen im September 2012 wurde Wilders von den Bürgern abgestraft und flog aus der Regierung. Quelle: REUTERS

Wenn es vier Monate vor der Bundestagswahl überhaupt noch jemanden gibt, der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Fürchten lehrt, dann nicht Peer Steinbrück, der Kandidat der SPD, sondern Carl-Heinz Schütte, 58, Bankkaufmann aus Friedrichsdorf bei Bad Homburg. Nicht seiner 196 Zentimeter Körpergröße wegen. Auch nicht, weil Schütte ein Steilthesen-Bestseller gelungen wäre, der neuerdings die Talkshow-Republik bewegte. Nein, einen wie Schütte drängt es nicht ins Rampenlicht. Einem wie Schütte geht es um Arbeit und Disziplin. Um Ordnung und um den Dienst an der Sache. Um die „Organisation des gesunden Menschenverstands“, wie er es nennt. Carl-Heinz Schütte ist seit drei Wochen Hauptgeschäftsführer der Alternative für Deutschland (AfD), der erste Angestellte der Anti-Euro-Partei, ihr institutionelles Herz und Wahlkampfgetriebe. Ohne Schütte wird es nichts mit der AfD in den nächsten 17 Wochen.

Ohne Schütte keine Mitgliederverwaltung, keine Terminorganisation, keine Marktplatzauftritte, keine Wettbewerberbeobachtung – und kein Wahlerfolg am 22. September.

Ja, vielleicht gäbe es ohne Schütte in ein paar Wochen nicht einmal mehr die AfD. Denn kaum sind die frühlingshaften Wochen des medialen Spontaninteresses, der Gründungseuphorie und des ruckartigen Mitgliederwachstums verflogen, schon ist die junge Partei in ihre erste Krise geraten. Zwei Sprecher des Landesverbandes in Berlin traten, kaum waren sie gewählt, von ihren Ämtern zurück. Ein Parteitag in Bayern versank wegen heftiger Personalquerelen im Chaos. Die Listenaufstellung in Niedersachsen mit Spitzenkandidat Bernd Lucke wurde angefochten und muss wiederholt werden. Und als wäre das alles noch nicht genug, machte auch noch ein AfD-Landesvize mit Sympathien für Weltkriegs-General Erwin Rommel von sich reden.

Die wichtigsten Köpfe in der AfD

Das Hauptproblem der AfD aber ist, dass sie den sensationellen Zulauf von Sympathisanten nicht produktiv zu kanalisieren versteht – und dass die anfängliche Begeisterung ihrer Anhänger daher in Reizbarkeit und Enttäuschung umzuschlagen droht. Das größte Kapital der AfD, der Enthusiasmus einer politischen Fangemeinde, die hochemotional-professorensachlich gegen die angebliche Alternativlosigkeit der Euro-Rettungspolitik aufbegehrt, erweist sich zugleich als größte Hypothek der AfD: Als Partei der Überzeugungstäter ist sie immer auch eine Partei der Besserwisser.

1200 Überläufer von der Union und je 600 von FDP und SPD, die allesamt ein Stück ihres politischen Lebens aufgegeben haben, einige Spitzenköpfe der Freien Wähler, dazu jede Menge Nichtwähler, die meinen, endlich eine politische Heimat gefunden zu haben – kein Wunder, dass in der AfD Flügelkämpfe beginnen, noch bevor es was zu verteilen gibt.

Viel zu viele AfD-Mitglieder, die die provisorische Geschäftsstelle in Bad Nauheim in den vergangenen Wochen mit Büchern, Aufsätzen, ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und selbst verfassten Versen überhäuft haben, fühlen sich berufen, was zu werden, weil sie das mit dem Euro, Europa und Frau Merkel immer schon, früher und besser gewusst haben – und sich endlich mit Anerkennung, Ämtern und Mandaten belohnt sehen wollen. „Wir müssen schwer aufpassen, dass der Ämtereifer unserer Mitglieder die Partei nicht lähmt“, sagt Schatzmeister Norbert Stenzel. Und Matthias Lefarth, ein Überläufer von der FDP, der sein Berliner Sprecheramt nach sechs Tagen entnervt niederlegte, warnt: „Wenn jeder nur an seinem Strang zieht, wird das nichts.“

Einfluss auf den Wahlausgang

Jeder dritte Deutsche sehnt sich nach der D-Mark
Der Fünf-Euro-Schein zeigt Bettina von Arnim: Vor allem Menschen zwischen 40 und 49 Jahren sind skeptisch. Hier wünscht sich knapp die Hälfte der Befragten die alten Zahlungsmittel zurück. Quelle: Bundesbank
In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen sind lediglich 16 Prozent skeptisch gegenüber dem Euro. 35 Prozent der 60-bis 69-Jährigen wünschen sich die D-Mark ebenfalls zurück. Quelle: Bundesbank
Annette von Droste-Hülshoff ziert den 20 D-Mark-Schein: Besonders Arbeiter und Hausfrauen trauern der D-Mark nach; Schüler und Studenten hingegen nur in ganz geringem Maße. Quelle: Bundesbank
"Früher war alles besser" sagen mit 37 Prozent vor allem Menschen, die mit einem Netto-Einkommen zwischen 1000 und 2000 Euro leben. Sie sind die D-Mark-Liebhaber unter den Deutschen. Quelle: Bundesbank
Unter denjenigen, die mehr als 4000 Euro im Monat verdienen, sind lediglich 21 Prozent D-Mark-Liebhaber. Sie machen sich schlicht keine Gedanken darüber. Quelle: Bundesbank
Zum Thema Inflation: Der Aussage "Durch die Inflation werden die Sparer schleichend enteignet" stimmten lediglich 34 Prozent zu. Quelle: Bundesbank
Rund die Hälfte der 60- bis 69-jährigen Befragten stimmt der Aussage nach der Enteignung allerdings zu - das ist der höchste Wert. Lediglich 28 Prozent in den Altersklassen der 18 bis 49-Jährigen ist davon überzeugt. Quelle: Bundesbank

Auch deshalb hat Carl-Heinz Schütte jetzt in Berlin-Charlottenburg ein Büro bezogen, hoch oben, im 15. Stock eines Bürokomplexes. Es ist nicht gerade die schönste Gegend rund um den Kurfürstendamm, auch nicht das schönste Haus, links davon duckt sich eine Kik-Filiale weg, rechts ein Edeka, gleich gegenüber, hinter dem Peugeot-Händler und der Freien Tankstelle, rauscht die S-Bahn vorbei, aber was soll’s: Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft der frisch aus dem Vorstand der Berliner AfD vergraulten Parteifreundin Annette Goldstein gewährt vorübergehend Unterschlupf, zum Nulltarif, versichert Schütte, da kann man nicht meckern: drei mal sieben Meter, zwei Schreibtische, ein Drucker, ein Telefon, zwei verspiegelte Schrankwände – Platz genug für Schütte und seinen Stellvertreter Georg Metz. So sieht sie also aus, die Parteizentrale der AfD. Und vor denen soll Angela Merkel sich fürchten?

Wahlverhalten, Wahlergebnisse und aktuelle Umfragewerte Quelle: Forsa

Seit der Niedersachsen-Wahl am 20. Januar schon. Damals verpassten CDU und FDP die Mehrheit im Landtag, weil ihnen ein paar Hundert Stimmen fehlten – Stimmen, die die Piraten (2,1 Prozent) und die Freien Wähler (1,1 Prozent) einheimsten, die damals mit Bernd Luckes Wahlalternative, einem Vorläufer der AfD, kooperierten. Die Wahl in Niedersachsen hat gezeigt, dass Urnengänge in Deutschland vor allem unberechenbar werden. Die Anziehungskraft der beiden Volksparteien ist dahin. Das politische Angebot vergrößert sich laufend (siehe Grafik). Und immer neue, kleine Parteien wie die Piraten und neuerdings die AfD demonstrieren, dass sie das gemütliche Gleichgewicht der etablierten Kräfte mit strengem Sachthemenbezug und mit der Mobilisierung von politikverdrossen Engagierten blitzschnell zu stören verstehen.

Ihr politisches Grundkapital verdanken AfD und Piraten der Ignoranz und Machtarroganz der arrivierten Kräfte. Die Piraten sammelten junge Menschen ein, die kein Verständnis hatten für die umfassende Verständnislosigkeit der Politik in Internet-Fragen. Und die AfD wird nun zur Heimat derer, die sich verhohnepipelt fühlen von einem Politikbetrieb, der milliardenschwere Gesetze durchs Parlament peitscht. Der Kritikern des Regierungskurses das Rederecht entzieht. Der Staatsschulden kontinentweit vergemeinschaftet. Der den Preis des Geldes manipuliert. Der die Ersparnisse der Deutschen aufs Spiel setzt. Und der, nicht zuletzt, die Erhaltung des einheitlichen Währungsraumes mit einer abenteuerlichen Zirkelschlusslogik begründet: Europa muss gerettet werden, weil Europa gerettet werden muss.

Die Anti-Euro-Thesen der „Alternative für Deutschland“

Selbst wenn Piraten und AfD am 22. September die Fünf-Prozent-Hürde nicht nehmen sollten – ihr Einfluss auf den Wahlausgang könnte beträchtlich sein. Nimmt man die jüngste Umfrage zum Maßstab, würde immerhin jeder siebte Wähler im September seine Stimme umsonst abgeben – und Merkels Erfolgsunion stünde allein im Bundestag gegen eine Phalanx aus SPD, Grünen und Linken. In der Union fordern vor allem Konservative deshalb endlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD – sehr zum Verdruss von Angela Merkel, die sich daran gewöhnt hat, mit gezielter Wählereinschläferung relative Mehrheiten zu gewinnen. Merkel vertraut darauf, dass die meisten Deutschen vor allem Ruhe wünschen. Ihr Prinzip ist es deshalb, keine Prinzipien zu verfolgen und den politischen Raum durch die Verbannung von Fantasie, von Ideen und verbindlichen Zielen gleichsam leerzusaugen. Die etablierte politische Konkurrenz hat Merkel damit sehr erfolgreich ausgelaugt. Doch die Präsenz von AfD und Piraten zeigt, dass Merkels Versuch, Deutschland zum politischen Vakuum zu degradieren, auf Dauer misslingen muss. Bei beiden Parteien handelt es sich nicht um Sammelbecken für Politikverdrossene, sondern im Gegenteil um Protestparteien, die mit guten Gründen gegen die Entpolitisierung Deutschlands und die Zynismen des parlamentarischen Betriebs rebellieren.

Bernd Lucke ist sich daher sicher, dass die AfD in den Bundestag einzieht, „mit Pauken und Trompeten“ sogar. Der Parteichef der AfD ist heute in Berlin, er sitzt in einem Café nahe des Brandenburger Tores und empfängt Journalisten zu durchgetakteten Dreiviertelstundengesprächen. Gerade verabschiedet sich der Publizist Henryk Broder: „Bleiben Sie am Ball. Lassen Sie sich nicht unterkriegen.“ Lucke lacht. Nein, das hat er nun wirklich nicht vor. Lucke spricht schnell, fest und ungeduldig, er nickt eifrig in Fragen hinein, um seine Antworten schneller loswerden zu können, sein ganzer Körper wirkt gespannt, wie von Adrenalin durchströmt: Er war zu Gast bei Maybrit Illner und Anne Will, er streitet sich in der „FAZ“ mit Dennis Snower, dem Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, seine AfD wird von Peer Steinbrück als „hochgefährlich“ eingestuft und treibt Außenminister Guido Westerwelle (FDP) „die Zornesröte“ ins Gesicht.

Geklärte Verhältnisse

Wahlversprechen, und was daraus wurde
1988: „Eins ist sicher: die Rente“ (CDU) Noch im Sommer forderte Bundessozialministerin Ursula von der Leyen, eine Zuschussrente einzuführen. Das soll die Armut im Alter verhindern, die viele Deutsche fürchten. Denn die staatliche Rente allein reicht längst nicht mehr. Schon 2001 führte die Bundesregierung mit der Riester-Rente eine zusätzliche Vorsorge-Möglichkeit ein. 1988 klangen noch andere Töne: Einen abgesicherten Lebensabend versprach damals CDU-Sozialminister Norbert Blüm im Wahlkampf. Mit dem Spruch „Eins ist sicher: die Rente“ hatte die CDU für sich geworben. Quelle: AP
1990: CDU will Aufbau Ost aus der Porto-Kasse zahlen„Blühende Landschaften“ versprach Kanzler Helmut Kohl 1990 in den neuen Bundesländern. Dafür hatte er vor der Bundestagswahl ausgeschlossen und wollte die Wiedervereinigung „aus der Portokasse“ finanzieren. Stattdessen kam der Solidaritätszuschlag. Dieser sollte aber nicht lange bleiben. 1996 versprach Kohl: „Der Solidaritätszuschlag ist bis Ende 1999 endgültig weg.“ Heute gibt es ihn immer noch. Quelle: dapd
2005: SPD schließt eine höhere Mehrwertsteuer ausFranz Müntefering fand es 2005 als Vizekanzler „unfair“, dass die Regierung „an dem gemessen wird, was in Wahlkämpfen gesagt worden ist“. Seine SPD hatte im damaligen Wahlkampf gesagt, dass es mit ihre keine höhere Mehrwertsteuer geben würde. Die CDU hatte sich für eine Erhöhung um zwei Prozentpunkte eingesetzt. Schließlich wurden es drei Prozentpunkte – mit der SPD als Koalitionspartner. Quelle: dpa/dpaweb
2005: CDU will erst raus aus dem Atomausstieg - und dann doch nichtSchon im Wahlkampf 2005 stellt die CDU den unter der SPD beschlossenen Atomausstieg in Frage. Raus aus dem Ausstieg wagt sie sich jedoch erst 2010 in einer Koalition mit der FDP. Lange fest hält sie daran nicht. Kanzlerin Angela Merkel änderte ihre Haltung ein knappes Jahr später nach der Atom-Katastrophe von Fukushima. Im Juni 2011 beschlossen Bundestag und Bundesrat, die sieben ältesten deutschen Atomkraftwerke und das Kraftwerk Krümmel sofort stillzulegen sind. Die restlichen deutschen Kernkraftwerke sollen bis 2022 abgeschaltet werden. Quelle: AP
2008: Hessens SPD will erst ohne, dann mit der LinkenRoland Koch als hessischen Ministerpräsidenten zu Fall bringen: Das war 2008 das Ziel von SPD-Spitzenkandiidatin Andrea Ypsilanti im hessischen Wahlkampf. Dafür wollte sie sogar ihr Wahlversprechen brechen, keine Koalition mit der Linken einzugehen. „Wir werden uns nicht einmal von ihr tolerieren lassen. Auch nach dem Wahlabend nicht, garantiert!“ Das waren Ypsilantis Worte vor der Wahl gewesen. Als sie sich nach der Wahl doch von der Linken tolerieren lassen wollte, ließ sie nach heftigem Widerstand von ihrem Vorhaben ab und trat zurück. Quelle: dpa
2009: CDU und FDP wollten das Kindergeld auf 200 Euro erhöhen200 Euro Kindergeld versprach die FDP vor der Bundestagswahl 2009. Die Koalition mit der CDU einigte sich sogar auf diese Erhöhung – geschehen ist seit dem nichts: Der Kindergeld-Satz liegt derzeit bei 184 Euro für das erste und zweite Kind, sowie 190 Euro für das dritte Kind. Laut einem Bericht der Bild-Zeitung von November 2012 können Eltern immerhin auf eine Erhöhung von zwei Euro bis spätestens 2014 rechnen. Quelle: AP
2009: CDU will Eingangssteuersatz senkenZum Jahresbeginn2013 dürfen sich die Steuerzahler über eine Erleichterungen freuen. Der Grundfreibetrag steigt ab jetzt schrittweise bis 2014 von 8.004 auf 8.354 Euro. Der Eingangssteuersatz bleibt jedoch gleich. Dabei hatte die CDU im Wahlkampf 2009 versprochen, ihn in zwei Schritten von 14 auf zwölf Prozent zu senken. Quelle: dpa

Bernd Lucke hat in den vergangenen Wochen erheblich an Bedeutung gewonnen. Und so sprudelt es aus ihm heraus: Die Zahl der Mitglieder steigt weiterhin. Querelen gibt es in Findungsphasen immer. Jeder weiß, was auf dem Spiel steht. Die Geschäftsführung wird jetzt straff organisieren. Und er selbst schaltet in den Wahlkampfmodus: Raus aus dem Euro, klar, aber es wird auch um Bildung, Steuern, Rente gehen: „Warten Sie’s ab.“ Lucke hat Großes vor und keinen Zweifel am Gelingen. Die Landeswahllisten stehen bald, sagt er. Die 2000 Unterstützer-Unterschriften werden am 15. Juli pünktlich vorliegen. Das Parteivermögen ist siebenstellig. Zuletzt hat Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Chef des Industrieverbandes BDI, 6600 Euro überwiesen – „unser Rekord bisher“, sagt Schatzmeister Stenzel stolz.

Vor allem aber hält Lucke das schwierige Verhältnis zu den Freien Wählern für geklärt: „Die machen Politik lokal, konkret, vor Ort. Wir kümmern uns um Bundespolitik, Europa und die großen Fragen.“ So gesehen hatte sich Stephan Werhahn nur vorübergehend verirrt. „Ich bin zurück in der CDU“ – und da fühlt er sich auch zu Hause. Als Werhahn, ein Enkel Konrad Adenauers, sich Mitte 2011 den Freien Wählern (FW) anschloss, war er so etwas wie das Bundesgesicht der Regionalpartei: Er trommelte gegen die Euro-Rettung und sollte als Spitzenkandidat in den Bundestagswahlkampf ziehen. Doch nach der Niedersachsen-Wahl überwogen die Zweifel, „weil ich sah, was mein Engagement bedeutete: Ein Sieg für Rot-Grün – das war das Letzte, was ich gewollt hatte“. Werhahn glaubt, dass die AfD als eine Art Erbin der Freien Wähler im Bund vor großen Problemen stehe: Viele Anhänger würden sich spätestens am Wahltag abwenden, um Merkel zu retten und Trittin zu verhindern.

Werhahn sollte es wissen. Er kennt das Personal der AfD gut, hat an der Seite von FW-Parteichef Hubert Aiwanger den Versuch einer Verschmelzung mit Luckes AfD ausgelotet. Vor allem ist sein Ein-, Auf- und Ausstieg ein Musterbeispiel für die Gefahren, die bürgerlichen Partei-Parvenüs drohen: Tod durch Nähe zum Rechtspopulismus – oder durch Intrige, Hybris, Eitelkeit.

Werhahn hatte es sich 2012 zur Aufgabe gemacht, möglichst viele Ortsvereine der FW hinter sich zu versammeln. Deshalb tingelte er übers Land, deshalb machte er Station in Düsseldorf. Was er nicht bedacht hatte: Einige der Ratsleute, die dort für die FW im Stadtrat saßen, hatten vor langer Zeit für die Republikaner gearbeitet. Als das einer ehemaligen Mitarbeiterin von Aiwanger zu Ohren kam, war Werhahns Karriere gelaufen. Die Frau hatte eine Rechnung mit Aiwanger offen und lancierte eine Pressemitteilung: Werhahn kooperiert mit Rechtsextremen. Aiwanger distanzierte sich. Und Werhahn stand allein da.

Das Entstehen der AfD

Auch die Kooperation zwischen Freien Wählern und dem AfD-Personal scheiterte. Aiwanger und Lucke – „das sind zwei Alphamännchen, die nicht Vize sein können“, sagt einer, der die beiden im Zwiegespräch erlebt hat. Die Trennung von FW und AfD, von der vor allem die Lucke-Partei profitiert, empfinden daher letztlich beide Seiten als Befreiung. Warum auch nicht? Die FW zählen auf lokaler Ebene 260.000 Mitglieder. Sie stellen im bayrischen Landtag rund ein Zehntel der Abgeordneten. Ihre Stärke besteht in regionaler Kompetenz. Eine einheitliche Linie zu bundespolitischen Themen ist schwer herzustellen. Der Großteil des Geldes wird in Bayern umgeschlagen. Aiwanger spricht unverkennbar das Idiom des Voralpenraums... – bei so viel weißblauer Färbung fällt es den FW schwer, in Währungsfragen neben einem VWL-Professor aus Hamburg zu bestehen. Entsprechend groß war der Aderlass der Partei in den ersten Wochen nach der AfD-Gründung. Entsprechend groß ist aber zugleich auch das Selbstbewusstsein, als Vor-Ort-Verbund langfristig zu bestehen: „Uns wird es noch geben, wenn Piraten und erst recht die AfD längst Geschichte sind“, sagt Bayerns FW-Vize Michael Piazolo.

Abwegig ist der Gedanke nicht. Die Geschichte der Piraten zeigt, dass der politische Senkrechtstart das eine ist – und ein dauernder Höhenflug etwas ganz anderes. Nach dem Einzug in das Berliner Abgeordnetenhaus 2011 heimste die Internet-Partei Wahlerfolge bei drei Landtagswahlen ein, bewegte sich bundesweit im zweistelligen Umfragehoch, verdreifachte ihre Basis auf fast 35.000 Mitglieder. Doch das schnelle Wachstum erwies sich als ungesund. Im vergangenen Jahr traten 4000 Piraten aus, bis zu 3000 weitere will Piraten-Chef Bernd Schlömer als Karteileichen demnächst aussortieren. Zwei von drei Piraten haben trotz permanenter Aufforderung noch keinen Beitrag gezahlt. Und die fehlenden Eigenmittel schlagen doppelt böse zu Buche: 2,1 Millionen Euro standen den Piraten 2012 aus der Parteienfinanzierung zu. Doch weil der Anteil an eigenen Einnahmen so gering ausfiel, musste der Staat bloß 792.500 Euro überweisen.

Grenzen des Wachstums

Welche Politiker die Deutschen (nicht) lieben
Angela Merkel: 65 ProzentKanzlerin Merkel baut ihren Vorsprung in der Wählergunst im ARD-Wahltrend nochmal um fünf Prozent zum Vormonat aus. Damit ist sie nicht nur die Politikerin, mit deren Arbeit die Deutschen am zufriedensten sind. Sondern sie führt als CDU-Vorsitzende auch die Partei an, die – laut aktueller Sonntagsfrage – eine unveränderte Mehrheit von 41 Prozent der Deutschen wählen würden. Bei einer Stichwahl zwischen den Kanzlerkandidaten Steinbrück und Merkel, würden 55 Prozent der Deutschen für Merkel stimmen. Im Profilvergleich mit ihrem SPD-Herausforderer schneidet sie nur beim Einsatz für soziale Gerechtigkeit schlechter ab. Quelle: dapd
Thomas de Maizière: 63 ProzentVerteidigungsminister de Maizière folgt der Kanzlerin auf den Fersen: Auch der CDU-Politiker konnte zum Vormonat nochmal fünf Prozent gutmachen. De Maizière kommt in seinem Amt als Verteidigungsminister wohl deshalb so gut an, weil er den Umbau der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee zügig vorantreibt. Außerdem macht er auf das Schicksal traumatisierter Soldaten aufmerksam und erklärt den pazifistischen Deutschen, warum mancher Bundeswehreinsatz doch nötig sein könnte. Quelle: dapd
Wolfgang Schäuble: 59 ProzentAuch auf dem dritten Platz der Zufriedenheitsrangliste steht ein CDU-Politiker aus dem merkelschen Ministerkabinett: Finanzminister Schäuble hat nochmal zwei Prozent mehr Zustimmung bekommen als im Dezember. Und das obwohl er als einer der prominenten Manager der Euro-Krise nicht gerade auf Beliebtheit abonniert ist: Glauben doch 70 Prozent der Deutschen, dass uns das schlimmste in der europäischen Schuldenkrise noch bevorsteht. 54 Prozent der Wähler machen sich Sorgen um ihre Ersparnisse. Quelle: REUTERS
Hannelore Kraft: 58 ProzentDer populärste Sozialdemokrat ist weder Parteiführer Gabriel noch die „Stones“, sondern die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen: Hannelore Kraft hat zum Vormonat nochmal zwei Prozent auf der Zufriedenheitsskala zugelegt. Ihre Beliebtheit gründet sich wohl vor allem darauf, dass sie nicht kühl und abgehoben und ihre Auftritte inszeniert wirken, wie bei vielen anderen Spitzenpolitikern. Sie wirkt immer noch wie die gute Freundin von nebenan – und diese Bodenständigkeit kommt an. Quelle: REUTERS
Frank-Walter Steinmeier: 51 ProzentVor noch nicht allzu langer Zeit hatte die SPD noch drei potentielle Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl im Herbst: die „Stones“, Steinbrück und Steinmeier, und den dritten im Bunde, Parteiführer Gabriel. Zum Spitzenkandidat kürte die SPD – irgendwie über Nacht – Peer Steinbrück, der inzwischen in den Beliebtheitsumfragen abstürzt. Dagegen sind die Deutschen in der aktuellen Umfrage mit Frank-Walter Steinmeier aus dem ehemaligen SPD-Triumvirat am zufriedensten, auch wenn er seit den letzten Umfragen um 5 Prozent absackte. Quelle: dapd
Jürgen Trittin: 45 ProzentDer beliebteste Grünen-Politiker im Deutschlandtrend ist Bundesfraktionsvorsitzender Jürgen Trittin mit unverändert 45 Prozent Zustimmung. Bei der aktuellen Sonntagsfrage würden 14 Prozent der Deutschen die Grünen in den Bundestag wählen, zwei Prozent mehr als noch in der Vorwoche. Quelle: dpa
Ursula von der Leyen: 44 ProzentDie Zufriedenheit mit Arbeitsministerin von der Leyen liegt unverändert bei 44 Prozent. Sie selbst geht mit dem Thema Popularität ganz pragmatisch um: “Beliebt wollte ich zu Schulzeiten sein, das sind Poesiealbumkategorien. Als Ministerin ist das für mich kein Kriterium mehr. Die Themen, die ich behandele, polarisieren, weil sie jeden angehen.” Quelle: dpa

Vielleicht noch schwerer wiegt die programmatische Selbstaufzehrung. Das zeigte sich exemplarisch vor wenigen Wochen beim jüngsten Parteitag. Dort warben Spitzenpolitiker für die Einführung einer Ständigen Mitgliederversammlung (SMV), also eine Art permanenten Online-Parteitag. Ergebnis: Die SMV wird es nicht geben. Was es gibt, immerhin: Künftig können die Piraten nicht nur an der Urne oder per Briefwahl, sondern auch online über Änderungen des Parteiprogramms abstimmen. Aber wie so ein Hybrid aus analog und digital funktionieren soll – „das habe ich ehrlich gesagt bis heute nicht verstanden“, sagt der Berliner Pirat Christopher Lauer. Für so manchen Freibeuter ist das Scheitern des SMV-Verfahrens beinahe gleichbedeutend mit dem Scheitern der Partei. Denn was bei der Konkurrenz eine bloße Strukturfrage wäre, trifft die Piraten in der Substanz: Neben den Inhalten wird hier eine Methode gewählt. Scheitert die Organisation einer liquiden Partei, die sich mit den Mitteln der Schwarmintelligenz ständig selbst verfeinert, entziehen sich die Piraten gleichsam ihren Selbstauftrag.

Anzahl der Likes auf den Facebookseiten Quelle: Facebook

Die Grenzen des Wachstums haben die Piraten aber nicht nur ereilt, weil ihre Netz-Prozess-Politik an institutionelle Grenzen stößt, sondern auch, weil sie als Freizeitpolitiker schlicht überlastet sind. Die frühere Geschäftsführerin Marina Weisband wechselte sich bereits nach einem knappen Jahr aus – Selbstdiagnose: ausgebrannt. Wichtige Spitzenpiraten gehen tagsüber normalen Berufen nach – und betreiben Politik in ihrer Freizeit. „Ich habe eine 80- bis 100-Stunden-Woche“, sagt Schlömer, Beamter im Bundesverteidigungsministerium: Tags dient er dem Land, abends der Partei. Erschwerend hinzu kommt der Anspruch der Piraten, besonders transparent und laienoffen zu sein. Schlömer hält montags eine Sprechstunde im Netz ab. Fraktionssitzungen werden online übertragen und ins Netz gestellt – und die Dauerdiskussionen auf Twitter führen dazu, dass die Partei sich wahnsinnig gerne um sich selbst dreht. Viele stehen das auf Dauer nicht durch, entsprechend oft wechselt das Führungspersonal. Auch Schlömer wird den Job nicht ewig machen: „Es wird auch wieder Zeiten geben, in denen ich mich in einen Biergarten setzen kann.“

Für Bernd Lucke ist ein Bier im Garten dieser Tage in etwa so verlockend wie ein Griechenland im Euro-Raum. Der Professor liest dienstags an der Hamburger Uni Wachstumstheorie und Makroökonomie, stottert seine Überdeputate ab und hat sich teilweise beurlauben lassen – das alles, um aus den Fehlern der anderen zu lernen. Beispiel Internet: Während sich die Piraten mit ihrer Netzkompetenz zu Tode twittern, tummeln sich AfD-Mitglieder in den Echoräumen von „Spiegel“, „Süddeutsche“, „FAZ“, „Handelsblatt“ und WirtschaftsWoche – und schlagen dort so auffällig viel Lärm, dass sich Millionen von Lesern ihren Argumenten gar nicht entziehen können. Freilich, eine Erfolgsgarantie ist damit nicht verbunden: Viele Kommentare sind abstoßend. Und vorerst verharrt die AfD in Umfragen bei zwei bis drei Prozent.

Ob Lucke schon mal mit Gabriele Pauli gesprochen hat? Auch die ehemalige CSU-Politikerin hat sich einmal den Freien Wählern angeschlossen. Auch sie geriet mit FW-Chef Aiwanger aneinander. Auch sie gründete daraufhin eine eigene Partei: die Freie Union. Auch sie erhielt in der Gründungseuphorie überwältigend viel Zuspruch: 2000 Mitglieder in zehn Tagen. Trotzdem reichte es bei der Bundestagswahl 2009 zu gerade einmal 6000 Stimmen. Der Rest war Schweigen.

„Mehr Struktur, eine starke Organisation, eine straffe Führung“ – so würde Pauli es heute machen. Und so macht es die AfD. „Ich bin der Transmissionsriemen“, sagt Geschäftsführer Carl-Heinz Schütte, „ich muss die Kraft unserer Argumente, die Leidenschaft unserer Mitglieder, die Wissenssubstanz unserer Freunde jetzt auf die Straße bringen.“ Schütte ist sich sicher, dass die „zügellose Energie nicht gezähmt, aber kanalisiert werden muss“, und zwar von oben nach unten. Einer habe das Sagen, und das sei der Bundesvorstand um Bernd Lucke. Der Rest müsse sich unterordnen, ihm zuarbeiten, ihm helfen, 17 Wochen lang, rund um die Uhr. Danach könne man weitersehen. Klingt ziemlich autoritär? „Klingt ziemlich nach Erfolg“, sagt Schütte.

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