Piratenpartei Aus und vorbei

Sie waren einst die Politstars für Digitalisierung und Partizipation. Nun kämpfen die letzten Piraten um ihre politische Zukunft in deutschen Landtagen. Dabei wissen sie: Das Ende ihrer Geschichte ist schon geschrieben.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Können sich die Piraten 2017 noch in einen Landtag retten? Quelle: dpa

Düsseldorf/Bielefeld Michele Marsching sitzt an seinem Schreibtisch, schlägt die schwarze Mappe vor sich auf und ärgert sich. Der Fraktionsvorsitzende der Piratenpartei im nordrhein-westfälischen Landtag hält eine Einladung eines Industrieverbandes in den Händen: Eine Podiumsdiskussion zur kommenden Landtagswahl am 14. Mai, gerichtet an alle Fraktionsvorsitzenden. Nur: Auf dem Podium sind ausschließlich SPD, CDU und die Grünen angekündigt. Das passiert in letzter Zeit häufig: Es wird so getan, als gebe es die Piraten nicht mehr. Marsching klebt einen gelben Post-It auf die Einladung. „Nachhaken“, schreibt er darauf.

Dabei gab es Jahre, in denen saßen die Piraten auf sämtlichen Polit-Podien. Da überschlug sich die mediale Berichterstattung, in den Umfragen kletterten die Werte zuweilen über die 10-Prozent-Marke. Die Grünen der Internetgeneration sah man in ihnen, eine weitere Partei im politischen Spektrum. Nachdem die Piraten 2011 bei der Berlin-Wahl immerhin 8,9 Prozent holten, schienen sie sich etablieren. Im darauffolgenden Jahr zogen sie in den saarländischen Landtag ein, anschließend auch in die von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Die sechs Jahre alte Partei zählte mittlerweile 34.000 Mitglieder.

Doch dann: Parteiinterne Streitereien, Antisemitismus-Vorwürfe, bekannte Parteigesichter schmeißen hin, auch in der Presse taucht die Piratenpartei immer seltener auf. Bei der niedersächsischen Landtagswahl 2013 scheitern die Piraten wieder an der Fünf-Prozent-Hürde. Es ist der erste Dominostein, der nach und nach alles zum Fallen bringt. Seit drei Jahren schon wird die Piratenpartei nicht mehr separat in den großen Wahlumfragen von Forsa, Emnid & Co. ausgewiesen – sie ist in der Sparte „Sonstige“ untergegangen. Doch noch, glaubt Marsching, sei das Ende der Geschichte seiner Partei abzuwenden.

Es ist der 4. März 2017, noch mehr als zwei Monate bis zur Landtagswahl. Marsching fährt zum Landesparteitag im Historischen Saal der Volkshochschule in Bielefeld. Dritter Stock, auf dem Weg nirgendwo ein Schild, dass hier eine Veranstaltung stattfindet, nirgendwo ein Hinweis, dass es die Piraten noch gibt. Für 200 Personen ist der Saal zugelassen, rund 100 werden kommen. Zum Landesparteitag im Hype-Jahr 2012 in Münster waren 500 Piraten gekommen. Wer jetzt noch Pirat ist, ist Idealist.

Die Piraten von heute tragen noch immer verwaschene T-Shirts, zottelige Bärte, man sieht Männerhaare zum Zopf gebunden. Laptops auf den Tischen, daneben Frühstück. Die für die Presse reservierten Plätze sind nahezu leer, neben dem Handelsblatt ist auch der „Spiegel“ da. Um 10 Uhr soll der Parteitag beginnen, um 10 Uhr 20 ist es immer noch nicht losgegangen, der Stream läuft nicht.

Erst um kurz vor halb 11 schwört der Landesvorsitzende Dennis Deutschkämer die Anhänger auf den Wahlkampf ein. Mit nur 28 Jahren steht der Fachinformatiker an der Spitze des mitgliederstärksten Landesverbandes, seit 2013 ist er Mitglied, seit drei Monaten im Amt. Normalerweise gehören NRW-Chefs zu den mächtigsten Figuren einer Partei, ihre Gesichter sind die bekanntesten Deutschlands. Hannelore Kraft, Armin Laschet, Christian Lindner – das sind die Dennis Deutschkämers der anderen Parteien. Über Deutschkämer hat noch nie ein Journalist einer überregionalen Zeitung berichtet.


Noch nicht aufgegeben

Nach dem Grußwort übernimmt Marsching die Versammlungsleitung. Der 38-jährige sieht mit seiner randlosen Brille und der Sparkassen-Frisur gar nicht aus wie ein Pirat, doch sein Outfit verrät ihn: Chucks, Blue Jeans und ein schwarzes Schlabbershirt. Der Aufdruck: Ein Trump-Kopf mit der Überschrift „Schwachkopf“.

Obwohl es sich um eine Wahlversammlung handelt, ist die Atmosphäre familiär und vor allem: Voller Tatendrang. Von Resignation, Überdruss, Politik-Müdigkeit keine Spur. An den Wänden hängen die Wahlplakate: „Protest wählen! Keine Nazis!“, „Digitale Revolution gerecht gestalten“. Außerdem die Forderungen nach einem Grundeinkommen und einem kostenlosen öffentlichen Nahverkehr.

Knapp zwei Wochen später in den Fraktionsräumen im nordrhein-westfälischen Landtag. Fast fünf Jahre ist es her, seitdem die Piraten hier rund 50 Räume bezogen und ihnen ihren Geist einhauchten. An den Türen Snowden-Plakate, Sprüche wie „Die Tür ist zu und die Antwort ist Nein“ oder „Der Hauptgrund für Stress ist der tägliche Kontakt mit Idioten“. Auf den Türschildern steht häufig zusätzlich der Name eines Twitteraccounts. Vor ein paar Wochen hatten die Menschen hinter den Türen eine Mail im Postfach: „Denkt dran: Ihr müsst euch arbeitslos melden.“

Michele Marsching hat sich nicht arbeitslos gemeldet und hat das auch nicht vor. Er glaubt, dass es doch noch machbar ist, die Fünf-Prozent-Hürde zu knacken, auch wenn die Umfragewerte bei unter einem Prozent liegen. Seine Rechnung: „Wenn wir es schaffen in der Öffentlichkeit wieder sichtbar zu werden, dann sind wir vielleicht wieder bei zwei Prozent und werden in den Wahlumfragen wieder separat aufgeführt. Wenn wir dann auf unsere Arbeit aufmerksam machen, geht es vielleicht auf vier Prozent. Und sind die erst einmal da, dann sind die fünf Prozent auch nicht mehr weit.“

Dienstag, 14. März 2017, noch genau zwei Monate bis zur Landtagswahl. Die Fraktion trifft sich zur Sitzung, der Live-Stream läuft. Wieder geht es um eine Podiumsdiskussion, zu der die Piraten nicht eingeladen wurden. Der Klageweg wird diskutiert, ein Fraktionsmitglied findet das „affig“, Marsching hält dagegen, die Piraten würden ausgegrenzt, es finde kein fairer Wahlkampf statt. Besonders ärgert ihn, dass sogar die AfD eingeladen wird, eine Partei, die weder im Landtag, noch im Bundestag vertreten ist. Er plant trotzdem zu der Veranstaltung zu gehen, sich seinen eigenen Stuhl und sein eigenes Schild mitzubringen und sich einfach aufs Podium zu setzen. Sollen ihn doch die Sicherheitsleute raustragen.

Der darauffolgende Tag: Die Landtagsabgeordneten stimmen über das kommunale Wahlrecht von Nicht-EU-Ausländern ab. Eine Abstimmung, die aufgrund einer Verfassungsänderung eine Dreiviertel-Mehrheit braucht. Und eine Abstimmung, über die auch die überregionale Presse berichtet. Eine Möglichkeit, sichtbar zu werden.


Das Ende der Geschichte

Die Piraten-Fraktion hat sich dem Antrag der SPD und der Grünen angeschlossen, CDU und FDP sind dagegen. Besonders die CDU wird von den übrigen Fraktionen angegriffen. Hauptargument des CDU-Fraktionsvorsitzenden und Ministerpräsident-Kandidaten Armin Laschet: Wenn dieses Wahlrecht eingeführt wird, dann werden lauter Erdogans in den nordrhein-westfälischen Stadträten sitzen. Marsching grätscht dazwischen: „Sie setzen ernsthaft alle Nicht-EU-Ausländer mit AKP-Anhängern gleich?“ Jubel von den Befürwortern des Antrags – eine seltene Genugtuung. Im Laufe der Legislaturperiode haben die Piraten über 300 Anträge gestellt – nur einer wurde angenommen.

Auch in der laufenden Sitzungswoche sind alle Anträge der Piraten abgelehnt worden, darunter die Anträge, in denen die Piraten einen Abschiebestopp nach Afghanistan forderten oder das Pflichtfach Informatik. „Wir haben durchaus etwas geändert. Es hat uns nur niemand zugeschrieben“, sagt Marsching. Teilweise hätten SPD und Grüne zuvor abgelehnte Anträge der Piraten nur minimal abgeändert und dann beschlossen.

Es ist das letzte März-Wochenende – das Wochenende, an dem das parlamentarische Kapitel der Saarländer Piraten endet. Die übrigen Piraten sind in Düsseldorf zum Bundesparteitag zusammengekommen, über 300. 15 Pressevertreter haben sich akkreditiert – für die Piraten aber ein großer Erfolg.

Marsching und Deutschkämer haben anstrengende Wochen hinter sich. „Mein Leben besteht nur aus Essen, Schlafen und Piraten“, erzählt Deutschkämer. Er arbeitet rund 60 bis 80 Stunden die Woche, hat kein Wochenende mehr, keine Zeit für seine Hobbys, vor zwei Uhr kommt er nicht ins Bett. „Ich glaube, dass die Piraten eine neue Geschichte brauchen, damit sie nicht mehr als der zerstrittene Haufen wahrgenommen werden“, sagt der Landesvorsitzende.

Am Ende des zweitätigen Bundesparteitags hält Marsching eine Rede, diesmal in Jeans und lila Schlabbershirt. Er erzählt, wie er immer wieder gefragt werde, warum er sich all die Arbeit noch antun würde, wenn er doch seine Diät als Abgeordneter bekomme, ohne etwas zu tun. „Ich könnte irgendwo auf den Malediven am Strand liegen, aber ich bin hier – auf diesem Parteitag. Weil ich daran glaube, dass die Politik die Piraten braucht.“ Zum Schluss bringt er ein berühmtes Zitat: „Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.“

Dann verlässt er die Bühne, geht Richtung Ausgang. Eine Umarmung von Deutschkämer, minutenlanger Applaus. Bei manchen Abschieden spürt man, dass es ein Wiedersehen geben wird. Bei anderen weiß man: Das ist das Ende der Geschichte.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%