Piratenpartei Die fünf Probleme der Piraten

Können sich die Piraten noch als politisch relevante Kraft etablieren oder werden sie zu einer Tierschutzpartei der Netzpolitik? Die Antwort findet sich zwischen fünf ungelösten Problemfeldern.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Piratenpartei Quelle: dpa

Eigentlich könnte es der Piratenpartei gerade ganz gut gehen. Nach monatelangen Personalquerelen symbolisiert die neue politische Geschäftsführerin Katharina Nocun Aufbruchsstimmung und mit der Debatte um "Drosselkom" und Netzneutralität bewegt ein ureigenes Piratenthema die Gemüter.

Doch statt mit Protesten gegen die Telekom-Pläne machte die Partei zuletzt wieder mit Skandälchen von sich reden. Da war die "Schwiegermutter-Affäre" um den Berliner Fraktionschef Christopher Lauer, der mit der Tochter von Chris Linke, der neuen Pressesprecherin liiert ist. Lauer und Linke sorgten dann für den bislang vielleicht absurdesten "Skandal": Sie untersagten einem Grünen-Abgeordneten, sich wie bislang üblich am Getränkeautomaten der Piraten zu bedienen, da dieser im Kopierraum stehe.

Der Höhenflug ist vorbei

Das "Getränkeautomatengate" ist exemplarisch für den Zustand der Truppe. Die Partei arbeitet sich inzwischen in vier Landesparlamenten durch die Mühen des Politalltags und für eine Versammlung größtenteils relativ unbeleckter Politamateure schlagen sie sich dabei gar nicht so schlecht, wie die wöchentlichen Skandalmeldungen suggerieren. Das zeigt sich insbesondere bei der Leitung des Untersuchungsausschusses zum Berliner Flughafendebakel. Ansonsten taugen die landespolitischen Bemühungen einiger Oppositionsvertreter jedoch selten für Schlagzeilen – noch dazu, wenn sie an anderer Stelle immer wieder Skandalmaterial liefert. 

Und so ist der zwischenzeitliche Höhenflug mit zweistelligen Umfragewerten lange vorbei. Der vor einem Jahr möglich scheinende Einzug in den Bundestag ist derzeit kaum vorstellbar. Die Frage ist vielmehr, ob es die Piraten mittelfristig noch schaffen, sich als politisch relevante Kraft zu etablieren oder ob sie wieder als Kleinstpartei im Spektrum der Sonstigen verharren und zu einer Art Tierschutzpartei oder Grauen Panther der Netzpolitik werden.

Ein Scheitern bei der Bundestagswahl ist dafür nicht unbedingt entscheidend. "Die Partei würde deswegen nicht implodieren und die Landtagsfraktionen werden ja auch nicht plötzlich ihre Arbeit einstellen", sagt Christoph Bieber, Politologe an der Uni Duisburg-Essen. "Ein Nichteinzug wäre für die Piraten vielleicht sogar heilsam", sagt der Parteikenner, denn viele Probleme resultieren aus dem schnellen Wachstum seit dem Wahlerfolg in Berlin 2011.

Fünf Problemzonen

Es kommt vielmehr darauf an, wie die Piraten künftig mit folgenden Problemen und Spannungsfeldern umgehen: 

  • Eine gesunde Mischung aus Transparenz, Basisdemokratie und effizienter Arbeit

  • Ein Organisationsmodell zu finden, indem Freizeitpolitiker eine bundespolitisch relevante Partei vertreten können

  • In diesem Zusammenhang vor allem die Frage einer funktionierenden Onlinebeteiligung der Mitglieder

  • Die bislang ungeklärte und manchmal widersprüchliche politische Positionierung

  • Die Kooperation mit anderen netzpolitischen Aktivisten

Das Problem der Beteiligung

Die Werkzeuge der Piraten
PiratenpadEs ist der kollektive Notizblock der Piratenpartei: Im Piratenpad können gemeinsam Protokolle geschrieben oder Pressemitteilungen entworfen werden. Der Vorteil: In Echtzeit können mehrere Personen ein Dokument online bearbeiten, es wird farblich hervorgehoben, wer was geändert hat – das lässt sich damit unterscheiden. Technische Grundlage ist die inzwischen zu Google gehörende Software EtherPad, die auch Unternehmen nutzen können.
MumbleEines der wichtigsten internen Kommunikationswerkzeuge ist Mumble – eine Mischung aus Chat und Telefonkonferenz. Sogar viele Vorstandssitzungen werden hier abgehalten. Gegenüber klassischen Telefonkonferenzen gibt es mehrere Vorteile: Das Programm lässt sich leicht auf dem Computer installieren und über den Chat kann parallel kommuniziert werden – so können beispielsweise Links verschickt werden. Wenn jemand spricht wird das Mundsymbol neben dem Nutzernamen rot, dadurch kann man die Stimmen besser auseinanderhalten, als bei normalen Telefonkonferenzen. Ähnliche Funktionen bieten auch Skype oder TeamSpeak, dass vor allem von Online-Computerspielern zur Verständigung genutzt wird. Eine Institution bei den Piraten ist vor allem der „Dicke Engel“ (inzwischen umbenannt in ErzEngel). Jeden zweiten Donnerstag um 19:30 Uhr versammeln sich zahlreiche Piraten in diesem Mumble-Raum und diskutieren teils mit Gästen aktuelle Themen.
Liquid FeedbackEin zentrales Element ist das Computerprogramm Liquid Feedback (LQFB), eine Art Abstimmungstool, mit dem ermittelt werden soll, wie die Mehrheit der Partei zu bestimmten Positionen steht. Die Besonderheit: Das Programm gibt den Parteimitgliedern die Möglichkeit, ihre Stimme an eine andere Person zu delegieren, der sie mehr Kompetenz in bestimmten Fragen zutrauen. Allerdings ist Liquid Feedback so revolutionär wie umstritten. Während vor allem der Berliner Landesverband LQFB intensiv nutzte, waren andere Teile der Partei und auch der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz lange skeptisch. Wie intensiv das Programm genutzt wird und welche Bedeutung den Entscheidungen zukommt ist daher noch in der Diskussion.
Wikis  Wikis sind der Klassiker, die meisten Webseiten nutzen eine Wiki-Software. Sie lassen sich leicht erstellen, erweitern und vor allem auch von vielen Beteiligten bearbeiten. Das Piratenwiki ist damit die zentrale Informations- und Koordinationsplattform.   Auch manche Unternehmen setzen inzwischen Wikis ein – vor allem für die interne Kommunikation. Das bekannteste Projekt ist Wikipedia.
Blogs  Auch Weblogs werden intensiv genutzt. Viele Piraten betreiben eigene Blogs, auf denen sie Debatten anstoßen oder bestimmte Dinge kommentieren. Auch die Piratenfraktion Berlin hat nach dem ersten Einzug in ein Landesparlament ein Blog gestartet, um über ihre Arbeit zu informieren.
Twitter  Der Kurznachrichtendienst ist der vielleicht beliebteste Kanal der öffentlichen Auseinandersetzung, kaum ein Tag vergeht an dem nicht irgendeine Äußerung oder ein echter oder vermeintlicher Fehltritt zum #Irgendwasgate und #epicfail ausgerufen werden. 
Diaspora  Auch andere soziale Netzwerke werden natürlich intensiv genutzt. Jedoch ist Facebook beispielsweise bei manchem Piraten schon wieder out. Julia Schramm beispielsweise, Herausforderin von Sebastian Nerz um den Parteivorsitz, hat sich wieder abgemeldet: „Es ist wie ein widerlicher Kaugummi.“ Stattdessen nutzt sie das alternative Netzwerk Diaspora.

 

Der plötzliche Erfolg ist auch für den jähen Absturz mit verantwortlich, denn dadurch ist es für die Piratenpartei immer schwieriger, den Wunsch nach totaler Basisdemokratie in der Praxis umzusetzen. Das zeigt sich vor allem bei den Parteitagen, auf denen zwar jeder mitreden kann, der Großteil der Anträge aber allein aus Zeitmangel unter den Tisch fällt.    

"Jedes beschissene Delegiertensystem der anderen Parteien ist basisdemokratischer als wir", schimpfte daher der Fraktionschef im Saarland, Michael Hilberer, beim Parteitag in Neumarkt. Auch andere Spitzenpolitiker warben dort massiv für die Einführung einer Ständigen Mitgliederversammlung (SMV), also eine Art permanenten Online-Parteitag.

Liquid Democracy ist eine Illusion

Eigentlich gibt es dafür bereits Liquid Feedback, die Abstimmungssoftware mit der die Piraten so gern für sich werben. Doch kaum ein Thema zeigt so sehr, wie bei den Piraten Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. In der Außenwahrnehmung existiert das Bild der Nerdpartei, die permanent bei Twitter & Co. diskutiert und entscheidet. Doch im Parteialltag ist die gern beschworene Liquid Democracy nur eine schöne Illusion, das zugehörige Programm nutzt nur ein Bruchteil und die Abstimmungen sind zudem nicht bindend.

Das sollte durch die SMV geändert werden, doch der Antrag verfehlte um 23 Stimmen die nötige Zweidrittelmehrheit. In ihrem Ärger darüber merkten viele Piraten gar nicht, dass mit dem Basisentscheid stattdessen etwas Ähnliches beschlossen wurde. "Wir haben jetzt als erste Partei in Deutschland die Möglichkeit, Beschlüsse außerhalb des Parteitags in einem Online-Verfahren zu treffen", jubelt Parteichef Bernd Schlömer. Die Pressemitteilung zu der vermeintlichen Online-Revolution verschickte die Partei allerdings erst vier Tage nach dem Beschluss.

Online-Revolution oder Demokratie-Alchemie?

Das liegt daran, dass die Piraten selbst noch nicht wissen, was sie da eigentlich gewählt haben. Im Prinzip ist es wie der Mitgliederentscheid anderer Parteien, mit dem wichtigen Unterschied, dass auch online über Änderungen des Parteiprogramms abgestimmt werden kann. Allerdings auch klassisch an der Urne oder per Briefwahl – und in einer Mischform. Wie das bei den diskutierfreudigen Piraten praktisch funktionieren soll bereitet vielen Kopfzerbrechen. "Ehrlich gesagt habe ich bislang nicht verstanden, wie dieser Online-Entscheid funktionieren soll", sagt der Berliner Christopher Lauer, eigentlich einer der vehementesten SMV-Befürworter.

"Demokratie-Alchemie" nennt der für Liquid-Feedback zuständige Vorstand, Klaus Peukert, das beschlossene Verfahren. Die Partei habe versucht, einen Stein der Weisen zu bauen. "Ich fürchte, dass der Offlinemodus bundesweit nicht koordiniert werden kann", sagt Peukert. "Allein die möglichen Urnenwahlen werden bundesweit hunderte Helfer benötigen." Er schätzt daher, dass das Instrument nur ein bis zwei Mal jährlich genutzt werden kann. Grundsatzfragen lässt der Vorstand derzeit von Justiziaren prüfen, eine Klausurtagung Ende Juni soll mehr Klarheit bringen.

Kritiker kürzen den Basisentscheid schon spöttisch mit BSE ab, wann der erste Online-Parteitag stattfinden kann steht in den Sternen. Eine Umsetzung mit Liquid Feedback ist wohl nicht möglich, wahrscheinlich muss eine komplett neue Software geschrieben werden. Schon für die reinen Online-SMV-Modelle hatte Peukert ein- bis anderthalb Jahre kalkuliert, für das jetzige Modell wagt er keine Prognose.

Derzeit sucht die Partei zwei Projektleiter für das Vorhaben. Kein leichten Job: Immerhin hat auch einer der Parteijustiziare in einer Stellungnahme für den Vorstand massive Bedenken angemeldet und festgestellt: "So wie wir es jedenfalls beschlossen haben geht es nicht".  

"Wir können nicht immer neue Modelle beschließen"

Marina Weisband Quelle: dpa

"Bis es dafür eine Software gibt, haben wir vielleicht auch eine vernünftige SMV", sagt Marina Weisband, die sich im Vorfeld für die Mitgliederversammlung besonders stark gemacht hat. Da eine Mehrheit ihre Auffassung geteilt hatte, sieht sie die Partei aber auf dem richtigen Weg. Da dieser aber sehr holprig aussieht, hoffen viele Piraten immer noch auf ein reines Online-Verfahren. "Eine SMV ersetzt der Beschluss definitiv nicht", sagt beispielsweise Lauer. Doch solchen Forderungen erteilt Schlömer eine Absage: "Wir können nicht immer sofort neue Modelle beschließen."

Die Umsetzung könnte für die Zukunft der Piraten noch enorm wichtig werden. Denn was bei der Konkurrenz eine langweilige parteiinterne Strukturfrage wäre, bildet bei den Piraten einen Teil des Selbstbildes. "Für viele Wähler der Piratenpartei sind die Beteiligungsmöglichkeiten so wichtig wie die Sachthemen", sagt Politologe Bieber. Neben den Inhalten wird mit den Piraten auch eine Methode gewählt. Ohne Online-Abstimmungen seien die Piraten insgesamt überflüssig schimpften viele Kritiker.

Überlastete Freizeitpolitiker

Zudem brauchen sie Online-Entscheidungen, um gleichzeitig basisdemokratisch und arbeitsfähig zu bleiben. Denn mit dem Wachstum potenzierten sich Arbeit und Konfliktfelder, schnell waren viele der Freizeitpolitiker überlastet und ausgebrannt. Die frühere Geschäftsführerin Marina Weisband ist das prominenteste Beispiel und in der öffentlichen Wahrnehmung ist der schnelle Aufstieg und Fall auch mit ihrem Gesicht verknüpft.

Dabei versuchten sich die Piraten immer der Personalisierung zu entziehen, dass diese Strategie in einer Gesellschaft, die Politiker eher aus Palaverrunden im TV statt aus Parlamentssitzungen kennt, schwerlich funktioniert, hat selbst der bekennende der Talkshowhasser Bernd Schlömer längst erkannt. Der Piratenchef setzt inzwischen auf das Motto "Themen und Köpfe".

Politik wird zum Hobby

Trotzdem sind die Piraten gegenüber den etablierten Parteien mit ihren Vollzeitfunktionären strategisch im Nachteil. Wichtige Spitzenpiraten gehen tagsüber normalen Berufen nach und betreiben die Politik danach in ihrer Freizeit. "Ich habe eine 80 bis 100-Stunden-Woche", sagt Bernd Schlömer, Parteichef und Beamter im Bundesverteidigungsministerium. Die Politik wird da zum Hobby, ein Privatleben außerhalb der Partei entfällt: "Die Wahlmöglichkeit, bei schönem Wetter einfach mal rauszugehen, gibt es nicht mehr".

So passiert es auch wie zuletzt im oberpfälzischen Neumarkt, dass zum Beginn des Parteitages und der Debatte über eine Neuwahl des Vorstands, deren Vorsitzender selbst noch nicht anwesend ist. Durch den Rücktritt des umstrittenen Geschäftsführers Johannes Ponader musste die Mitgliederversammlung kurzfristig auf drei Tage verlängert werden und begann bereits an einem Freitag. Doch Schlömer konnte da keinen Urlaub nehmen, in der bürointernen Brückentagsverteilung hatte er sich lange zuvor für das 1.-Mai-Wochenende entschieden, um zumindest einen Tag auf einer Fahrradtour entlang der Elbe mit seinem Hund komplett offline zu verbringen. Als er am nächsten Tag das Handy wieder einschaltete umtobte ihn bereits ein Shitstorm, da Schlömer in einem Interview über Motivationsprobleme seiner Partei gesprochen hatte. 

Vier Posten und ein Vollzeitjob

Katharina Nocun ist die neue Hoffnung der Piraten Quelle: dpa

Viele stehen das auf Dauer nicht durch, entsprechend oft wechselt das Führungspersonal. Auch Schlömer wird den Job nicht ewig machen, es wäre keine Überraschung, wenn er unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahl beim Parteitag in Bremen Ende des Jahres nicht wieder kandidiert. Offiziell äußert er sich dazu noch nicht. "Doch es wird auch wieder Zeiten geben, in denen ich mich in einen Biergarten setzen kann", sagt Schlömer vielsagend.

Durch den Einzug in vier Landesparlamente verfügen die Piraten nun zwar über 45 Abgeordnete samt Mitarbeitern, doch da gleichzeitig die Arbeit und die Mitgliederzahlen stiegen, entspannen diese Strukturen die Lage nur bedingt. Wie sehr sich manche Piraten zerteilen, zeigte sich auch nach der Wahl von Katharina Nocun. Der bayerische Pirat Christian Reidel bot an, als Assistent für Nocun Termine zu koordinieren.

Transparenz erschwert die Arbeit

"Und wer managt dann in der Zeit deine fünf anderen Jobs?", schimpften Mitglieder seines Landesverbands. Reidel ist bereits Bundestagskandidat, Bezirksvorsitzender und Wahlkampfkoordinator in Niederbayern und leitet die Rechtsabteilung der Partei in Bayern. Neben seinem Vollzeitjob in einer Anwaltskanzlei versteht sich.

Zudem erschwert der eigene Anspruch an Transparenz und Basisdemokratie die alltägliche Arbeit. Die Piraten versuchen so offen zu agieren, wie keine Partei zuvor: Parteichef Schlömer steht der Basis  einmal jeden Montag in einer Sprechstunde im Netz zur Verfügung und auch in die Vorstandssitzungen kann sich jeder Interessierte online einschalten. Die Fraktionssitzungen werden ebenfalls online übertragen, aufgezeichnet und mitsamt der Protokolle ins Netz gestellt.

So viel Transparenz ist zwar ein Novum im politischen Prinzip, doch damit wird auch jeder interne Streit sofort öffentlich. Die Dauerdiskussionen auf Twitter verstärken diesen Prozess noch einmal und führen dazu, dass Shitstorms und die Selbstbespiegelung die Wahrnehmung der Partei prägen.

Ungeklärte politische Positionierung der Piraten

Neben dieser kommunikativen Überdehnung hat auch die Erweiterung des politischen Programms zu vielen Spannungen und Problemen geführt. So wie die AfD derzeit monothematisch mit ihrer Eurokritik punkten kann, haben die Piraten ihre Anfangserfolge der Netzpolitik zu verdanken. Dabei wollte sie sich lange nicht im politischen Spektrum verorten lassen und propagierte: "Nicht links, nicht rechts, sondern vorn". Auch Nocun will sich politisch nicht festnageln lassen: "Das Rechts-Links-Spektrum ist wenig aussagekräftig".

Doch während Ein-Themen-Parteien anfangs davon profitieren, für etwas Spezielles zu stehen und sich so von der in vielen Feldern immer ähnlicher werdenden Politik der etablierten Parteien abzugrenzen, können sie auf Dauer eine thematische Vielfalt kaum vermeiden. Gerade im Landtagswahlkampf sind andere Themen gefragt, AfD-Chef Lucke war deshalb gar nicht böse, dass seine Truppe in Bayern nicht antritt und so um Fragen nach Agrarsubventionen oder der Finanzierung von Umgehungsstraßen herum kommt.

"AfD ist keine Konkurrenz"

Ein Button der AfD Quelle: dpa

Viele Probleme, mit denen die Piraten derzeit kämpfen, stehen den Euroskeptikern noch bevor oder haben bereits begonnen. "Ich sehe die AfD nicht mehr als Konkurrenz", sagt Schlömer. Die Querelen seien bereits stärker, als die Fähigkeit politische Arbeit zu leisten. Zudem sei die Piratenpartei zukunftsorientiert, die AfD eher rückwärtsgewandt. Doch während sich die Piraten nach außen gelassen geben, wissen sie intern genau, dass die neue Konkurrenz sie entscheidende Punkte kosten könnte. So twittern die Piraten inzwischen so häufig über die AfD wie sonst nur über den einstigen Lieblingsgegner FDP.

Vorläufiger Höhepunkt in der Auseinandersetzung war ein Auftritt auf dem Parteitag: Ein Pirat und Vorstandskandidat für den Bundesvorstand outete sich während seiner Bewerbungsrede als Neumitglied der Euroskeptiker. Prompt erhielt er Hausverbot und die Piraten verabschiedeten eine Unvereinbarkeitsklausel: Doppelmitgliedschaften sind sonst explizit zulässig, die Piraten akzeptieren Mitglieder der CSU oder der Linken in ihren Reihen – nur die AfD ist unerwünscht.

Abwerbeversuche der AfD

Der Auftritt war kein Einzelfall, denn die AfD wirbt gezielt um Piraten. Schon vor der Parteigründung hatte Lucke Piratenchef Schlömer angeschrieben, um eine Zusammenarbeit auszuloten. Kürzlich erhielt auch Marina Weisband eine E-Mail, in der sie gefragt wurde, ob sie nicht zur AfD wechseln möchte. Auch andere Piraten sollen angeschrieben worden sein. "Einige anstrengende Leute sind gewechselt, die teilweise eine gefährliche Einstellung zu Themen wie Meinungsfreiheit haben", sagt Weisband. Sie eigentlich froh darüber, sich mit einigen Querulanten weniger herumärgern zu müssen. 

Während sich die AfD derzeit noch auf die Eurokritik fokussieren kann, spielt die Währungskrise bei den Piraten keine große Rolle. Denn gerade in Wirtschaftsfragen zeigt sich immer wieder die Zerrissenheit zwischen linken und liberalen Positionen. Während Parteichef Schlömer und sein Vize Sebastian Nerz die Piraten als sozialliberale Partei definieren, repräsentierte der frühere Occupy-Aktivist Johannes Ponader den linken Flügel. Allerdings wird die Existenz dieser Strömungen bis heute von vielen Parteimitgliedern ignoriert, die politische Positionierung ist in vielen Bereichen nicht geklärt.  

Piraten sind dem einen zu links, dem anderen zu rechts

"Als ich 2009 den Piraten beigetreten bin, standen die Piraten für ein freiheitliches, liberales Menschen- und Gesellschaftsbild mit sozialer Verantwortung", sagt René Brosig. Als beispielhaft für diese Haltung nennt er eine Formulierung aus dem Grundsatzprogramm: "Wir wollen Armut verhindern, nicht Reichtum", heißt es da.

Brosig setzte sich dafür ein, arbeitete im Vorstand als Schatzmeister. Dann gab er den Posten auf, dem Bilanzexperten bei Siemens war die Doppelbelastung zu viel geworden. Doch auch politisch entfernte sich die Partei von seinen Vorstellungen. "Mit dem Mitgliederzuwachs wurden die liberalen Positionen zunehmend durch linke Positionen verdrängt", kritisiert Brosig.

Nach dem Parteitag in Bochum zog er die Konsequenz und trat aus. Ausschlaggebend waren Beschlüsse zu Rentenpolitik und Krankenversicherung. Die Piratenpartei will alle bisherigen Systeme einschließlich der Pensionen zu einer Rentenkasse zusammenfassen und alle Einkommen und Kapitalerträge zur Zahlung verpflichten. Der in der DDR aufgewachsenen Brosig kritisiert das als "Kollektivismus", der seiner Vorstellung einer freien Gesellschaft widerspricht. 

"Die meisten Mitglieder sind unpolitisch"

Piraten auf Erfolgskurs
Wie ihr skandinavisches Vorbild ziehen auch die deutschen Piraten inzwischen von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Die Gründung der schwedischen Piratpartiet Anfang 2006 galt als Startschuss einer globalen Bewegung. Die „Ur-Piraten“ protestierten gegen die Kriminalisierung von Personen, die sich über die schwedische Internet-Tauschbörse „The Pirate Bay“ Musik und Filme herunterluden. Die Partei fordert eine radikale Reform des Urheberrechts und mehr Informationsfreiheit im Internet. Quelle: dpa
10. September 2006In Berlin wird die Piratenpartei Deutschland gegründet. Quelle: dpa
Januar 2008Die Veröffentlichung von der Partei zugespielten Unterlagen aus Bayerns Justizministerium macht die Piraten bekannt. Aus den Dokumenten geht hervor, dass bayerische Behörden mit einer besonderen Software unrechtmäßig Internet-Telefonate überwachten. Quelle: dapd
Januar 2009Pläne der Bundesregierung für ein Gesetz zur Sperrung kinderpornografischer Internetseiten werden bekannt. Die Piraten und Bürgerinitiativen warnen vor Zensur im Internet. Quelle: dpa
Trotz einer Online-Petition mit mehr als 130.000 Unterzeichnern wird das Gesetz verabschiedet. Die Proteste bringen der Partei neue Mitglieder: Nach 1500 Anfang Juni sind es Ende 2009 mehr als 11.000. Quelle: dapd
27. September 2009Bei der Bundestagswahl erreicht die Partei mit 2,0 Prozent ihr bis dahin bestes Ergebnis. Es folgen weitere Achtungserfolge in den Ländern. Quelle: dpa
18. September 2011Bei der Wahl in Berlin ziehen die Piraten mit 8,9 Prozent in das erste Landesparlament ein. Nach Parteiangaben sitzen zu diesem Zeitpunkt in acht Bundesländern 153 „Kommunalpiraten“ in Kreistagen, Stadt- und Gemeinderäten sowie Bezirkversammlungen: 59 in Niedersachsen, 51 in Berlin, 31 in Hessen, 5 in Bremen, 3 in Hamburg, 2 in Nordrhein-Westfalen und je 1 in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Quelle: dpa

Stephan Urbach hat die Partei wiederum verlassen, weil sie ihm nicht links genug war. Der Berliner mit der Irokesenfrisur gehörte auch zur Piratenprominenz: als schlagfertiger Wahlleiter hat er es immer wieder geschafft eine gewisse Ordnung im Chaos mancher Parteitage aufrecht zu erhalten. Nach viereinhalb Jahren trat der Bundestagskandidat jedoch aus, da er sich mit der Einstellung vieler Piraten nicht mehr identifizieren konnte. "Die meisten Mitglieder dieser Partei sind unpolitisch", sagt Urbach, "die sind halt so >Neue Mitte<". Die von vielen postulierte Ideologiefreiheit sei für sich selbst ideologisch, in den Kategorien des erklärten Linken heißt das jedoch nicht links sondern rechts.

Die Partei sei widersprüchlich bis ins Mark, habe ihre Gründungspositionen bis heute nicht fertig gedacht und tue alles, um eine genauere Positionierung zu unterlassen, kritisiert Urbach. Neben den beiden haben auch andere bekannte Piraten der Partei in den vergangenen Monaten frustriert den Rücken gekehrt. Dazu gehören der frühere Landesvorsitzende in Baden-Württemberg Lars Pallasch, Ex-Pressesprecher Christopher Lang, Enno Park oder zuletzt der beliebte Jan Leutert.  

Nur 30 Prozent zahlen den Mitgliedsbeitrag

Insgesamt sind in den vergangenen zwölf Monaten 4000 Mitglieder ausgetreten, etwa ein Viertel davon kehrte der Partei ein Jahr nach dem Beitritt wieder den Rücken. 

Dazu kommen unzählige Karteileichen. Trotz permanenter Appelle haben in diesem Jahr erst 30 Prozent den Mitgliedsbeitrag gezahlt und sind damit überhaupt stimmberechtigt. Die fehlenden Eigenmittel spürt die Partei gleich doppelt: 2,1 Millionen Euro standen den Piraten 2012 aus der Parteienfinanzierung eigentlich zu. Davon erhielten sie jedoch nur 792 000 Euro, da der Anteil an eigenen Einnahmen zu gering war.

Künftig wird die Partei weiter schrumpfen, kündigt Schlömer an. Denn seine Partei beschloss gerade, dass Austritte auch per E-Mail möglich sind, zudem können säumige Zahler und Mitglieder die nicht erreichbar sind nach mehrfacher Mahnung gestrichen werden. Die Parteispitze schätzt die Zahl der Karteileichen auf bis zu 3000. Sollten diese gestrichen werden, könnte die Mitgliederzahl wieder unter 30.000 fallen.

Allerdings überlegen es sich manche auch anders: Christophe Chan Hin beispielsweise, der vor einem Jahr genervt seinen Austritt erklärte. Dann schloss der Designer sich doch wieder den Piraten an und ließ sich nun sogar in der Vorstand wählen. Auch bei Vorstandsmitglied Klaus Peukert war das so.  

Karrieristen und kluge Köpfe

Dazu kommen motivierte Neumitglieder. Vor allem während des Höhenflugs vor einem Jahr  erlebte die Partei einen enormen Zulauf. Manche wurden argwöhnisch als Karrieristen betrachtet, die auf eine schnelle Politkarriere im Rückenwind der Piraten hofften. Doch es kamen auch kluge und angesehene Köpfe, wie der Düsseldorfer Internetanwalt Udo Vetter oder die frühere Microsoft-Managerin Anke Domscheit Berg.

Auch Katharina Nocun ist in dieser Zeit und damit relativ spät dazu gestoßen. In kurzer Zeit ist sie zur neuen politischen Geschäftsführerin geworden. Auf der Nachfolgerin des polyamoren Sandalenfans Ponader ruhen viele Hoffnungen, "Zeit", "Welt" und "Bild" feiern Nocun schon unisono als "Piraten-Prinzessin". "Ich kann alleine keine Wunder bewirken", wiegelt die 26-Jährige ab, die Partei könne den Einzug in den Bundestag nur gemeinsam schaffen.  

Piraten auf Kooperationskurs mit Netzaktivisten

Eine Aufgabe der Datenschützerin wird es dabei sein, die Kernthemen wieder stärker in den Fokus zu rücken. Denn von der Empörung über die Drosselpläne der Telekom konnten die Piraten kaum profitieren. Zwar kritisierten auch sie, dass durch die Bevorzugung eigener Dienste, das Prinzip der Netzneutralität verletzt wird und Schlömer geht sogar so weit, eine Verstaatlichung der Netze zu fordern: "Man muss prüfen, ob die Netze nicht zurück in öffentliche Hände geführt werden."

Doch die Debatte prägten der 18-Jährige Abiturient Malte Götze und Johannes Auenländer, deren  Petitionen zehntausende Personen unterschrieben haben. Auch der Verein Digitale Gesellschaft hat die Kampagne im Netz maßgeblich befördert. Dessen Kopf, Markus Beckedahl, der auch das einflussreiche Blog Netzpolitik betreibt, steht jedoch den Grünen nahe.

Es ist ein Grundproblem der Piraten, dass durch die Parteigründung manche in inhaltlichen Fragen natürlichen Verbündeten aus parteipolitischen Gründen Abstand halten. Deutsche Netzpromis wie Sascha Lobo oder Nico Lumma beraten die SPD oder haben das getan und der Chaos Computer Club will sich nicht als verlängerter Arm der Piraten instrumentalisieren lassen.

Mit der Partei im Rücken ist es einfacher

Trotzdem geht die Piratenpartei nun auf Kooperationskurs. "Wir sollten Themen wie die Durchsetzung der Netzneutralität künftig in einem Aktionsbündnis mit anderen Organisationen Schulter an Schulter anschieben, ohne dass wir die Platzhirsche sind", sagt Schlömer. In den nächsten Wochen will er mit Vertretern verschiedener Gruppen über stärkere Kooperationen sprechen.

Das ist oft schwierig, da andere Aktivisten fürchten, dass die Piraten mit ihren Fahnen den Demonstrationszug dominieren. Nocun weiß das genau. Sie hat sich seit einigen Jahren beim Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und anderen Gruppen für Netzpolitik engagiert. Bis vor einem Jahr zog sie es dabei auch vor, parteiunabhängig zu agieren.

Doch mit einer Partei im Rücken sei es oft einfacher, an bestimmte Informationen zu bekommen oder sich Gehör zu verschaffen. Daher versucht Nocun nun mit den Piraten für ihre Vorstellungen von Datenschutz zu kämpfen. Auch sie will dabei stärker mit ihren früheren netzpolitischen Mitstreitern zusammenarbeiten. Wie schwer das ist, weiß Nocun dabei nur zu genau: "Gemeinsame Aktionen sind immer ein Balanceakt, man darf dabei die Parteifahne nicht zu hoch hängen". Bei den Protesten gegen die Telekom-Pläne hätten sich die Piraten daher bewusst zurückgenommen.

Die Strategie ist riskant: Denn der Preis für mehr Unterstützung Gleichgesinnter ist womöglich eine geringere öffentliche Wahrnehmung bei den wichtigsten Themen der Partei.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%