Polit-Talks 2015 Wenn ein Selfie mehr sagt als 1000 Worte

Die Griechenland- und die Flüchtlingskrise dominieren 2015 die Polit-Talks. Die Gäste sind dabei oft dieselben. Die fatale Folge: Etwas anderes als die inhaltliche Debatte entwickelt politische Strahlkraft.

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Mit frischen Gesichtern punktete die Talkshow-Landschaft 2015 wenig. Quelle: dpa

Berlin Zwei dominierende Themen, die ewig gleichen Gesichter, aber kaum mehr als Schlagworte, die hängen bleiben: 2015 wurde im ARD und ZDF in Polittalkshows hitzig diskutiert. Themen gab's genug im zu Ende gehenden Jahr – sollte man meinen. Doch eine Studie des Koblenzer Medienlinguisten Sascha Michel zeigt, dass vor allem Griechenland und die Flüchtlingskrise die Diskussionsrunden dominiert haben.

In 58 Ausgaben der fünf wichtigsten Talkshows bis Ende Oktober wurde „30 Mal zur Griechenland- und 28 Mal zur Flüchtlingskrise“ diskutiert. Viel heraus kam dabei meist nicht. „Wenn über Wochen oder Monate hinweg wöchentlich in drei bis vier Sendungen über ein Thema diskutiert wird, der Diskurs sich aber kaum gesellschaftspolitisch weiterentwickelt – einfach weil sich keine neuen politischen Entscheidungen oder Positionen herausbilden – kann es auf Zuschauerseite zu einer Diskursübersättigung kommen“, sagt Medienlinguist Michel zu Handelsblatt Online. Immer wieder etwa hätten sich Diskussionen zur Flüchtlingskrise um den Ausspruch „Wir schaffen das“ oder um den Begriff „Obergrenze“ gedreht.

Im Fall von Griechenland sah das folgendermaßen aus: Günther Jauch ließ im Juli über „Die Entscheidung der Griechen – Schicksalstag für Europa?“ diskutieren. Drei Tage zuvor kam die Talkrunde bei Maybritt Illner zum Thema „Athen gegen Europa – Sind die Griechen noch zu retten?“ zusammen.

Einen Abend vor Illner lud Anne Will ihre Diskutanten ein, um über „Tsipras lässt das Volk abstimmen – Provokation oder Chance für Europa?“ zu referieren. „Was sich verändert, sind die Diskutanten, doch auch hier wird immer seltener auf Variation geachtet“, kritisiert Michel.

2015 waren vor allem Wolfgang Bosbach und (als Griechenland noch Thema war) Jorgo Chatzimarkakis Stammgäste in den diversen Polittalks im Ersten und Zweiten. Und die telegene SPD-Frau Franziska Giffey schien mit Heinz Buschkowskys Amt als Berlin-Neuköllner Bezirksbürgermeister dessen Talkshow-Verpflichtungen gleich mit übernommen zu haben.

Auffallend war, dass die öffentlich-rechtlichen Talkshows keine horizontale Themensetzung verfolgten. Beinahe jede Sendung blendete aufs Neue aus, was bisher diskutiert wurde, und versuchte immer wieder mit großsprecherischen Titeln das große Ganze in den Blick zu nehmen, anstatt konkrete, beantwortbare Fragen zu stellen. Am Ende wussten die Moderatoren dann oft selbst nicht mehr, welchen Titel ihre Sendung ursprünglich trug. Und Antworten auf ihre Fragen erhielten sie von den Talkgästen fast nie. Sie bemühten sich auch nur selten darum.

„Die Titel arbeiten verständlicherweise mit Übertreibungen, Zuspitzungen, Schwarz-Weiß-Malereien und Polemik. Dennoch sollte man gerade bei öffentlich-rechtlichen Sendungen genauer hinschauen, weil Talkshows Deutungsrahmen und Interpretation bei der Vermittlung politischer Diskurse vorgeben“, sagt Michel, der seit 2006 über Talkshows forscht.


Interaktion zwischen den Talkgästen kam nur selten zustande

Ab Mitte November stand vor allem ein Thema im Fokus. „Der Terror von Paris – Was ist unsere Antwort?“, „Terrorkrieg in Paris – was macht die Angst mit unserem Europa?“ und „Terrorziel Deutschland – wie groß ist die Gefahr?“, hießen die Sendungen.

Am Samstag nach dem dem 13. November schoben ARD und ZDF nacheinander zwei Sonderausgaben der Talkshows von Frank Plasberg und Maybrit Illner ins Programm. „Spiegel Online“ betitelte die Sondersendungen mit „Reden, obwohl man sprachlos ist“. Das macht deutlich, worum es inzwischen meistens geht: Was gesagt wird ist weniger wichtig als die gemeinsame Selbstvergewisserung.

Im Rahmen dieser Selbstvergewisserung bemühten sich die Talksendungen bei den Gästen neben der Großen Koalition und der kleinen Opposition auch weiter Milieus einzubeziehen. Allerdings blieb es bei den respektablen Ansätzen der Verantwortlichen von Illner, Plasberg & Co. Denn oft breitete jeder einfach seine Botschaft aus, sodass Interaktion mal wieder nicht zustande kam.

Aber für ein Fernsehgenre, das derart gut eingeführt ist und sich über tausende Sendungen in fast zwei Jahrzehnten entwickelt hat, ist es ein Armutszeugnis, nichts anderes zu wollen, als allein der von anderen gesetzten Agenda hinterherzutalken. Wenn die Talkshows sich weiterhin so wenig Themensetzungs-Potenzial zutrauen wie 2015, haben sie sich bald überflüssig gemacht.

„Politische Kommunikation findet über immer mehr Kanäle in immer mehr Zeichensystemen wie Sprache, Bilder und Töne statt. Menschen, vor allem jüngere, sind nicht mehr so auf das Medium Fernsehen zur politischen Information angewiesen“, sagt dazu Sascha Michel.

Er beobachtet den Trend, dass visuelle politische neben die verbale Kommunikation tritt und „positionsbeziehende Selfies politische Diskurse stärker steuern können als Talkshows“. Es könnte sogar sein, dass „mit dem Wandel von der modernen zur postmodernen politischen Kommunikation ein Wandel von der viel beschworenen Talkshow-Republik zur Selfie-Republik einhergeht“, lautet eine These des Wissenschaftlers.

Fürs Publikum hätten Selfies zumindest den Vorteil, dass sie nicht eine Stunde oder mehr Lebenszeit kosten. Für 2016 bleibt erst mal zu hoffen, dass die Veränderungen im Talkshow-Gefüge nach Günther Jauchs Ausscheiden über den Wechsel einiger Sendeplätze und des Sendungstitels von „Menschen bei Maischberger“ zu „Maischberger“ hinausgehen.

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