Politik im Wandel Der neue Konservatismus und seine Folgen

Es entsteht zurzeit eine neue konservative Kapitalismuskritik. Das stellt sowohl die Sozialdemokraten als auch die Freidemokraten vor neue Herausforderungen.

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Neue Kritik am Kapitalismus gedeiht aus der Furcht vor Wohlstandsverlust und äußert sich vor allem im Widerstand gegen politischen Wandel. Ein Ausdruck dafür ist die fast absolute Mehrheit für CDU/CSU bei den Bundestagswahlen. Quelle: dpa

Die eigene Wohlstandssituation wird zunehmend zum Hauptfokus, wie eine Studie von Berkeley Ökonomen beweist. Sie zeigt, dass sich seit der Finanzkrise viele Menschen im Zweifelsfall für Effizienz statt für Umverteilung entscheiden. Und die letzte Bundestagswahl gibt den Ökonomen Recht.

Der linke Wahlkampf der SPD und Grünen kam beim Wähler nicht an. Es triumphierte vielmehr die Partei, die ein stabiles Weiter-so und "Keine Experimente" versprach - nämlich die CDU.

Auch jetzt, wo erkennbar wird, dass das Wohlstandswachstum hauptsächlich nur noch bei den reichsten Prozent der Bevölkerung fortschreitet, während es bei Mittelschicht und den prekär Beschäftigten eher stagniert und damit auch die soziale Ungleichheit steigt, ist es dennoch der Mehrheit der Bevölkerung wichtiger, dass ihr eigener Wohlstand nicht kleiner wird. Unabhängig davon, ob andere zunehmend viel größere oder kleinere Anteile des gesamten volkswirtschaftlichen Wohlstandes abbekommen.

Die Geschichte der SPD

Dieser zunehmende Fokus auf die eigene ökonomische Lage ist aber mitnichten Kapitalismus pur - sondern vielmehr das Gegenteil, nämlich eine neue konservative Kapitalismuskritik.

Sie gedeiht aus der Furcht vor dem Wohlstandsverlust und äußert sich vor allem im Widerstand gegen politischen Wandel. Letztlich mündet sie in der Verteidigung des status quo und der Wahl konservativer Parteien.

Diese neue konservative Wende in der Politik ist eine Form von Kapitalismuskritik, in der sich die Menschen gegen die Unsicherheit auf den globalen Märkten aussprechen. Das neue Prinzip der Mehrheitspolitik in Deutschland scheint Furcht und Sorge zu heißen. Und dem soll mit Stabilitätspolitik begegnet werden.

Der neue Steuerungspessimismus und der Hoffnungsverlust der Mittelschicht sind eine der Hauptgründe des Erstarkens des politischen Status-quo-Konservatismus. Die fast absolute Mehrheit für die CDU/CSU bei den Bundestagswahlen ist dafür nur ein Ausdruck. Auch die Wahl von Rechtspopulisten bei der Europawahl vielerorts in Europa verstärkt den Eindruck eines Konservatismus, der eine große Furcht vor Veränderungen in der Welt ausdrückt.

Dieser Konservatismus ist Ausdruck einer Überforderung. Er ist eine Gegenreaktion gegen eine sich schnell wandelnde und zu komplex werdende Welt, in der sich viele als Verlierer fühlen, weil sie glauben nicht mehr mitzukommen. Der neue Konservatismus ist gerade nicht nur ein elitärer, sondern wird vor allem auch von Globalisierungsverlierern gestützt - und denen, die befürchten, es zu werden.

Sieben Anzeichen, dass Merkels Macht schwindet
1. Keine Merkel-Freunde auf Europas Top-JobsBundeskanzlerin Angela Merkel hat den europäischen Spitzenkandidat der Konservativen für die Europawahl, Jean-Claude Juncker, unterstützt – halbherzig. Weder vor der Wahl, noch nach der Wahl Ende Mai wollte sie sich klar zu dem Luxemburger bekennen. Dass der Wahlsieger automatisch auch Präsident der neuen Kommission werden sollte, lehnte sie ab. Dennoch wurde Juncker am Dienstag ins höchste EU-Amt gewählt. Und auch bei der Verteilung der anderen Top-Jobs in Europa hat Merkel wenig zu melden. Auf Druck der Sozialisten um Sigmar Gabriel, Italiens Matteo Renzi und dem französischen Präsidenten Francois Hollande, soll die Italienerin Federica Mogherini neue Außenbeauftrage der EU werden. Der Spanier Luis de Guindos könnte neuer Eurogruppen-Chef werden. Günther Oettinger musste sie mangels Alternative wieder zum EU-Kommissar machen, obwohl der keine Gelegenheit auslässt, Merkels Energiepolitik zu kritisieren. Quelle: AP
2. Die wichtigsten Ministerämter besetzen SozialdemokratenDie große Koalition ist die erste SPD-geführte Unionsregierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Thematisch und personell dominieren die Genossen. Zwar strahlt Merkel über allem, aber die Tages-Themen bestimmen SPD-Ressortchefs. Zudem waren die bisher schneller und fleißiger. Ob Rente, Mindestlohn oder Energiewende – die Minister Andrea Nahles und Sigmar Gabriel haben bereits kräftig geliefert. Von den Unions-Kadetten hört man wenig. Einzig Finanzminister Wolfgang Schäuble hat den versprochenen ausgeglichenen Haushalt für 2015 vorgelegt – allerdings mit ein paar Milliardentricks in den letzten Tagen vor dem Kabinettsbeschluss. Quelle: AP
3. Eine neue Kraft rechts der Union ist entstandenBis zu Merkels Wiederwahl 2009 undenkbar, nun Realität: Rechts der Union ist eine neue Kraft entstanden, die „Alternative für Deutschland“. Sie ist in die Lücke gestoßen, die Merkel mit der Sozialdemokratisierung der Union – Stichwort: Frühverrentung, Mindestlohn, Energiewende – hinterlassen hat. Das Problem für Merkel und die CDU: In einem Sechs-Parteien-Parlament wird es für die Konservativen immer schwieriger Mehrheiten abseits der ungeliebten Großen Koalition zu finden. Quelle: dpa
4. Diskussion um die Merkel-Nachfolge ist entbranntEinerseits glaubt in Berlin niemand, dass Merkel schon amtsmüde wäre, andererseits sagen viele: Wenn eine der Polit-Koryphäen die Kraft zum rechtzeitigen Absprung findet, dann ist es Merkel. Zumindest ist die Frage, wer der Kanzlerin nachfolgen könnte, in diesem Sommer das beliebteste Gesellschaftsspiel auf den Berliner Polit-Sommerfest (natürlich nach der Frage, wie wohl die Weltmeisterschaft ausgehen würde). Nachdem Thomas de Maizière in seiner Zeit als Bundesverteidigungsminister wegen der Drohnen-Affäre ins Trudeln geraten war und ohnehin mehr nüchterner Sachwalter als Volkstribun ist, bleibt derzeit nur seine Nachfolgerin im Rennen: Ursula von der Leyen. Weder aus Bundes- noch auf Landesebene sind ansonsten Anwärter bereits herangewachsen. Und da von der Leyen zwar hohe Zustimmungswerte genießt, aber vielfach von Anhängern anderer Parteien, aber weniger beispielsweise in der Unions-Bundestagsfraktion, bleibt Merkel – getreu ihrem Lieblingswort: alternativlos. Quelle: dapd
5. Der amerikanische Freund führt die deutsche Kanzlerin vorDas waren noch Zeiten, als US-Präsident Barack Obama Angela Merkel die „Medal of Freedom“ ansteckte, eine der höchsten Auszeichnungen, die die USA überhaupt zu vergeben hat. Das machte die Kanzlerin schon ein wenig stolz, zumal Obama damals auch noch in der deutschen Öffentlichkeit – vor allem der linken – hohes Ansehen genoss. Doch nun grüßt Merkel als düpierte, nachdem immer neue Abhörskandale bekannt werden. Dass die NSA das Handy der Berliner Regierungschefin angezapft hatte, war schon schlimm genug. Die Entdeckung weiterer Fälle in BND und Bundeswehr blamiert sowohl Obama als auch die Bundesregierung. Quelle: dpa
6. Schwarze Ohnmacht in den LändernUnter Merkels Führung hat die CDU ihre Vormachtstellung in den Landesregierungen eingebüßt – und damit auch den Bundesrat als Machtfaktor gegen sich. Hatten im Jahr 2005, also vor Merkels Amtsantritt als Kanzlerin, noch elf Bundesländer eine Unionsgeführte Bundesregierung – und zweit weitere eine SPD-geführte mit CDU-Beteiligung -, so sind es heute nur noch sechs – und zwei als Juniorpartner. Zudem hatte die Union damals in fünf Ländern eine absolute Mehrheit, musste sich also dort nicht mit einem Koalitionspartner über das Abstimmungsverhalten in der Länderkammer einigen. Heute kann nur noch die CSU allein regieren. Und weil die CDU in den Ländern noch schwächer ist als die SPD, hat nicht einmal die große Berliner Koalition eine Mehrheit, sondern ist auf die Zustimmung von Landesregierungen mit grüner Beteiligung angewiesen. Quelle: AP
7. Kein Erfolg in den GroßstädtenDie Union hat zuletzt bei den Kommunalwahlen gewonnen, aber in den Großstädten wieder einmal kein Land gesehen. In Düsseldorf wurde der CDU-Oberbürgermeister Dirk Elbers überraschend abgewählt – obwohl die Landeshauptstadt finanziell gut dasteht. Von den zehn einwohnerstärksten Städten werden neun von SPD-Oberbürgermeistern regiert, Stuttgart ist die einzige Ausnahme: dort regiert der Grüne Fritz Kuhn. Von den 30 größten deutschen Städten werden nur Dresden, Wuppertal, Münster, Augsburg, Mönchengladbach und Aachen von Unionspolitikern regiert. Die Konservativen haben in den vergangenen Jahren nicht geschafft, jungen Großstädter für sich zu gewinnen. Trotz des Atomausstiegs. Trotz des Linksrucks in der Partei. Da immer mehr Menschen vom Land in die Städte ziehen, braut sich für die Union ein großes Problem zusammen. Quelle: dpa

Und so wird die politische Entscheidung, eher konservativen Parteien die Stimme zu geben, auch eher zu einer Kritik an den Verhältnissen. Sie wird nicht zu einer Kritik, weil die Mehrheit glaubt, dass diese Parteien noch etwas an dieser Lage ändern können. Sondern weil viele Bürger glauben, dass diese Parteien verhindern können, dass es noch schlimmer wird.

Doch genau hier liegt der Fehler. Denn die konservative Wende äußert sich nicht nur in Reformzurückhaltung, sondern auch in Austeritätspolitik. Die Mittelschicht bekommt so weder durch Steuerreformen mehr Netto vom Brutto, noch wird der Sozialstaat so ausgerichtet, dass er jedem vergleichbare Chancen und Förderung ermöglicht.

Das Dogma der Politik ist vielmehr das Sparen. Es ist paradox, warum nach der Krise Stabilitätspolitik gewünscht wird. Denn diese erzeugt im Ergebnis letztlich genau das Gleiche wie die Politik vor der Krise 2008, nämlich den Rückzug des Staates.

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