Politische Börse Warum die Jamaika-Pleite die Börse kalt lässt

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Keine „Politik gegen die Wirtschaft“

Sein innerparteilicher Rivale, Bundeskanzler Gerhard Schröder, hatte am Tag zuvor, am 10. März in einer Kabinettssitzung wütend gesagt, man könne keine „Politik gegen die Wirtschaft“ machen. Mit Lafontaines Rücktritt am darauffolgenden Tag begann so zumindest wirtschaftspolitisch das Zeitalter der Alternativlosigkeit.

Dreieinhalb Jahre später, als Gerhard Schröders rot-grüne Koalition – ohne Lafontaine – noch einmal denkbar knapp die Wahlen gewann, war das immerhin noch eine spürbare Börsenreaktion – nämlich eine negative – wert: Fünf Prozent abwärts ging es im DAX am Tag nach der Wahl. Das war, wohlgemerkt, vor Schröders Agenda-Reformen. Seit 2005 entlockten Wahlen und Regierungsbildungen den Märkten zumindest in Deutschland kaum noch eindeutige Reaktionen.

Politologen erklären die wachsende Wahl-Coolness der Märkte meist mit der Konvergenz, also den geringer werdenden Unterschieden zwischen den wirtschaftspolitischen Parteiprogrammen. „Die Politik ist auf die Investitionsbereitschaft von Unternehmen angewiesen. Mit offenen Märkten können diese sich unvorteilhaften Investitionsbedingungen jedoch leichter entziehen, dies kann zu zunehmend geringeren Unterschieden führen. Dies erklärt zumindest teilweise, warum der Einfluss von Wahlen und anderen politischen Ereignissen auf die Börse abnimmt. Regierungen haben weniger Einfluss auf die Renditen von Unternehmen als früher“, sagt Michael Bechtel von der Washington University in St. Louis, der die politische Ökonomie von Aktienmärkten erforscht. Diesen Trend könne man in manchen Zeiträumen und in manchen Ländern nachweisen: „Langfristige Beobachtungen in den USA und Großbritannien zeigen, dass sich Aktienmärkte besser entwickeln, wenn konservative Regierungen ins Amt kommen.“

Seit Lafontaines Rücktritt 1999 ist sehr viel passiert in Politik und Wirtschaft, aber es hat keinen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel mehr gegeben. Ob Schröder oder Merkel, ob Union, SPD, FDP oder Grüne – die politischen Weichen blieben in Richtung offener Kapital- und Warenmärkte und investitionsfreundlicher Bedingungen gestellt. Wie unverrückbar diese politische Grundentscheidung ist, zeigt sich auch darin, dass „Globalisierung“ in der politischen Kommunikation und Presse wie ein unbeeinflussbares, von außen kommendes Naturgesetz dargestellt wird.

Unpolitisch sind die Börsen aber deshalb keineswegs. Denn die Globalisierung ist eben gerade kein Naturgesetz, sondern beruht auf politischen Grundsatzentscheidungen. Für die Öffnung der Märkte waren politische Mehrheiten notwendig. Diese können auch wieder verloren gehen. Die Märkte können Parlamentswahlen oder Koalitionsbildungen oder deren Platzen daher nur solange weitgehend entspannt betrachten, wie die entscheidenden Machtpositionen von den gewohnten politischen Kräften besetzt bleiben.

Dementsprechend waren es allein völlig unerwartete Ereignisse jenseits der Kontrolle der etablierten Parteien, die in jüngerer Zeit noch deutliche Auswirkungen auf die Finanzmärkte zeigten: Die Wahl Donald Trumps, die entgegen mancher Vorhersagen den Investoren offenbar gut gefiel, und das Brexit-Referendum in Großbritannien, das zumindest kurzfristig einen Sturz des britischen Pfunds und des FTSE 250 auslöste.

Vermutlich hätte auch ein Sieg der wirtschaftspolitischen Protektionistin Marine Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen den CAC 40 heruntergepeitscht. Diese Vermutung legen die historischen Analysen des Genfer Politologen Thomas Sattler nahe. Er hat 205 Wahlen seit 1950 untersucht und festgestellt, dass die Offenheit des Kapitalmarktes den Rahmen vorgibt, wie stark Börsen auf politische Ereignisse reagieren. In stark globalisierten Aktienmärkten reagieren Börsen demnach weniger auf politische Ereignisse als in relativ geschlossenen Märkten, in denen Unternehmen nationalen politischen Entscheidungen stärker ausgeliefert sind.

Wer in Deutschland auf politische Börsen wetten will, der dürfte sich deswegen sehr viel mehr für die künftigen Wahlergebnisse der Linken oder der AfD interessieren als für Koalitionen oder Minderheitsregierungen der etablierten Parteien.

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