Die Existenz von Armut in Deutschland in Frage zu stellen, ist eine sichere Methode für Journalisten, wütende Leserreaktionen und persönliche Beleidigungen heraufzubeschwören. Da schaltet sich auch gerne mal der Bildblog ein, um den Autor zurechtzuweisen.
Wer bezweifelt, dass diejenigen, die am unteren Ende der Einkommensskala in Deutschland stehen, „arm“ genannt werden sollten, steht schnell als herzloser und zur Empathie unfähiger Mensch da. Erstaunlich ist aber, dass sich in der Regel nicht die betroffenen „Armen“ selbst empören. Vermutlich fühlt sich derjenige, der weniger als 848 Euro monatliches Einkommen zur Verfügung hat und damit für die Statistiker „arm“ ist, gar nicht verhöhnt, wenn ihm jemand sagt, dass er nicht arm ist. Angegriffen fühlen sich dadurch vielmehr jene, die die Existenz und das angebliche Wachstum der „Armut“ in Deutschland lauthals beklagen. Zur Empörung berufen fühlen sich vielmehr diejenigen, die sich für die moralischen Anwälte der „Armen“ halten. Und deren einziges und durch und durch wohlstandsbürgerliches Argument ist meist, man solle doch einmal versuchen, mit so wenig Geld auszukommen.
"Arm" und "reich" sind politische Kampfbegriffe
„Arm“ und „reich“ sind keine neutralen Attribute. Niemand kann eindeutig sagen, wo die Armut aufhört und wo der Reichtum beginnt. Die Sozialstatistiker in den EU-Staaten tun so, als könnten sie es, und definieren Armut als eine relative Größe, die unterhalb von 40 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Von dem, was der frühere Weltbank-Chef Robert McNamara als Armut auf absolutem Niveau bezeichnete, nämlich ein „Leben am äußersten Rand der Existenz“ sind diese 40 Prozent zumindest in Deutschland jedenfalls ziemlich weit entfernt. Und vor allem ist durch die Relativierung dafür gesorgt, dass die Zahl der „Armen“ auch dann nicht sinkt, wenn die sozialstaatlichen Leistungen noch so sehr ansteigen.
„Arm“ und „reich“ sind politische Kampfbegriffe. Diese Feststellung steht am Anfang eines Buches, das auf die soziale Frage in Deutschland einige kluge Antworten anbietet: „Die Asozialen“ ist das Ergebnis jahrelanger Recherchen und die Essenz zahlreicher Artikel, die der Stern-Journalist Walter Wüllenweber in den vergangenen Jahren verfasst hat.
Der Riss, der den inneren Frieden in unserer Gesellschaft gefährdet, verläuft nicht zwischen weniger Verdienenden und Besserverdienenden, zu denen oft schon Menschen ab 60 000 Euro Jahreseinkommen gezählt werden. Sondern zwischen denen, die von ihrer eigenen Arbeit leben und jenen, die nicht arbeiten. Reich sind für Wüllenweber nicht die Millionen von „Besserverdienenden“, sondern das „eine Prozent“ der Deutschen, das mehr als 1,5 Millionen Euro Vermögen hat. Und insbesondere hat er jene im Blick, die in erster Linie von ihren Kapitalerträgen leben.
Der Rückzug aus der bürgerlichen Gesellschaft
Die ganz unten und die ganz oben ziehen sich beide in ihre Parallelgesellschaften zurück, leben von dem, was die in der Mitte erwirtschaften, und zersetzen gemeinsam den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Asozialen, so Wüllenwebers These, sitzen ebenso in den Sozialwohnungen in Essen-Katernberg wie in den Villen von Bad Homburg. An den beiden Enden der Gesellschaft kann man vergleichbare Verhaltensweisen wahrnehmen: Die einen betrügen die Arbeitsagentur, die anderen das Finanzamt.
Wüllenweber hat zwar nicht versucht, selbst wie ein Hartz-IV-Empfänger zu leben, aber er war nahe an ihnen dran. Seine Reportagen für den Stern aus den Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern gehören zum Besten, was der deutsche Journalismus in jüngerer Zeit hervorgebracht hat. Sie sind auch in sein Buch eingeflossen. Wüllenweber saß bei Familien auf dem Sofa, deren Fernseher nie schweigt. Er traf junge Mädchen, die stolz darauf sind, dass sie Sex mit mehreren Männern gleichzeitig hatten. Die aber nicht wissen, was ein Liebesbrief ist.
Jungs, die nicht rudern können
Das Ausmaß der Verwahrlosung der Unterschicht und ihren Abschied von der bürgerlichen Gesellschaft verdeutlicht sein Besuch bei einem Berliner Ruderverein. „Die heutige Unterschicht kann nicht rudern“, berichtet ihm ein Trainer, der versucht hat, in den entsprechenden Wohngebieten Jungs für seinen Sport zu begeistern. Nach wenigen Wochen war keiner mehr übrig. Typische Neuköllner Jungs hätten eben nicht das, was man beim Rudern braucht: Disziplin, Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Pflichtbewusstsein.
Die Unterschicht hat sich weitgehend vom Sport verabschiedet, von der Musik sowieso. Auch das Engagement von Arbeitslosen in Kirchen, Parteien oder Vereinen ist weit unterdurchschnittlich. Die Unterschicht, die Wüllenweber präsentiert, arbeitet nicht, aber sie tut auch sonst nichts, was in irgendeiner Weise dem eigenen Wohl oder dem der Gesellschaft dienlich wäre.
Und darin ähnelt sie, so Wüllenwebers These, dem obersten Prozent der wirklich Reichen. Bei diesen Reichen saß Wüllenweber nicht auf dem Sofa. Sie ließen ihn nicht drauf. Und genau das, ihre Unsichtbarkeit, ist das Indiz für den Rückzug aus der Gesellschaft, die Flucht vor der Verantwortung. Charakteristisch die Aldi-Albrechts, von denen niemand so recht weiß, was sie tun. Und mit 18 Milliarden Euro geschätztem Vermögen ließe sich so einiges tun. Aber, so Wüllenweber, den Reichen genügt es, einfach nur reich zu sein.
Die Profiteure der Asozialen
Das obere Prozent ist nicht identisch mit den in linken Milieus viel geschmähten Top-Managern. Und vor allem besteht es nicht in erster Linie aus Unternehmenslenkern. Es sind die Enkel der Gründerhelden. Entstanden ist ein Geldadel, der die aktiven Geschäfte gerne abgetreten hat. Warum sich mit der Verantwortung herumschlagen, wenn das angelegte Geld mehr Rendite abwirft als man durch Arbeit verdienen könnte?
Der Geldadel der Gegenwart erinnert an den Adel des Ancien Regime, der auch von den Renditen seiner Güter lebte, die andere für sie verwalteten. Die Legitimation der Privilegien des alten Adels war das edle Blut, das die Ahnen im Kampf vergossen hatten. Die einzige Legitimation von Reichtum in modernen, postheroischen Gesellschaften ist die „Leistung“. Doch welche Leistung erbringen die Enkel von Unternehmern, die sich nicht nur aus ihren Unternehmen zurückziehen, sondern auch aus der bürgerlichen Gesellschaft? Deren Namen oft nur die Wealth Manager von Privatbanken kennen, weil sie weder im Kulturleben noch in der Wirtschaft, geschweige denn im Staatsdienst sichtbar sein wollen. Die lieber hinter hohen Mauern anonym ihren Reichtum genießen, weil ihnen Reichtum als Lebenszweck genügt.
Eine blasphemische Frage
Möglich ist dieser doppelte Rückzug der „Asozialen“ aus der bürgerlichen, arbeitenden Gesellschaft, weil er zwei mächtige Profiteure hervorgebracht hat und nährt. Die unverhältnismäßige Expansion der Finanzindustrie und ihr irrealer Renditehunger sind nur die eine Seite der Verzerrung des kapitalistischen Produktionsregimes. Auf der anderen Seite hat sich eine boomende Branche entwickelt, die Wüllenweber die Hilfsindustrie nennt. Die Existenz einer Schicht von hilfsbedürftigen Langzeitarbeitslosen ist ihre Legitimation und Existenzgrundlage.
Die Schürfrechte an dieser Goldgrube werden ständig ausgeweitet: Behindertenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Altenpflege, Schuldnerberatung, Obdachlosenhilfe. Längst tummeln sich hier nicht mehr nur kirchliche Organisationen, wie die Caritas, der größte Arbeitgeber in Deutschland, sondern eine wachsende Zahl an Privatunternehmen, die geschätzt mindestens 115 Milliarden Euro im Jahr umsetzen. Ihr Erfolgsgeheimnis ist, dass sie oft sowohl für die Diagnosen als auch die vermeintliche Heilung sozialer Missstände zuständig sind. Und das Geld dafür kommt nur zum geringsten Teil von Spenden, sondern vom Steuerzahler. Wüllenweber stellt die blasphemische Frage, für die ihn viele hassen werden: Wächst die Zahl der Hilfsbedürftigen wirklich so rasant wie die Zahl der Helfer?
Wüllenwebers Buch ist ein Befreiungsschlag. Es könnte der Beginn einer Debatte über die radikalen Veränderungen sein, die die deutsche Gesellschaft gleichzeitig an ihrem unteren und am oberen Rand durchmacht.