Politische Debatte Die Asozialen - ganz unten und ganz oben

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Die Profiteure der Asozialen

Das obere Prozent ist nicht identisch mit den in linken Milieus viel geschmähten Top-Managern. Und vor allem besteht es nicht in erster Linie aus Unternehmenslenkern. Es sind die Enkel der Gründerhelden. Entstanden ist ein Geldadel, der die aktiven Geschäfte gerne abgetreten hat. Warum sich mit der Verantwortung herumschlagen, wenn das angelegte Geld mehr Rendite abwirft als man durch Arbeit verdienen könnte?

Der Geldadel der Gegenwart erinnert an den Adel des Ancien Regime, der auch von den Renditen seiner Güter lebte, die andere für sie verwalteten. Die Legitimation der Privilegien des alten Adels war das edle Blut, das die Ahnen im Kampf vergossen hatten. Die einzige Legitimation von Reichtum in modernen, postheroischen Gesellschaften ist die „Leistung“. Doch welche Leistung erbringen die Enkel von Unternehmern, die sich nicht nur aus ihren Unternehmen zurückziehen, sondern auch aus der bürgerlichen Gesellschaft? Deren Namen oft nur die Wealth Manager von Privatbanken kennen, weil sie weder im Kulturleben noch in der Wirtschaft, geschweige denn im Staatsdienst sichtbar sein wollen. Die lieber hinter hohen Mauern anonym ihren Reichtum genießen, weil ihnen Reichtum als Lebenszweck genügt.

Eine blasphemische Frage

Möglich ist dieser doppelte Rückzug der „Asozialen“ aus der bürgerlichen, arbeitenden Gesellschaft, weil er zwei mächtige Profiteure hervorgebracht hat und nährt. Die unverhältnismäßige Expansion der Finanzindustrie und ihr irrealer Renditehunger sind nur die eine Seite der Verzerrung des kapitalistischen Produktionsregimes. Auf der anderen Seite hat sich eine boomende Branche entwickelt, die Wüllenweber die Hilfsindustrie nennt. Die Existenz einer Schicht von hilfsbedürftigen Langzeitarbeitslosen ist ihre Legitimation und Existenzgrundlage.

Die Schürfrechte an dieser Goldgrube werden ständig ausgeweitet: Behindertenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Altenpflege, Schuldnerberatung, Obdachlosenhilfe. Längst tummeln sich hier nicht mehr nur kirchliche Organisationen, wie die Caritas, der größte Arbeitgeber in Deutschland, sondern eine wachsende Zahl an Privatunternehmen, die geschätzt mindestens 115 Milliarden Euro im Jahr umsetzen. Ihr Erfolgsgeheimnis ist, dass sie oft sowohl für die Diagnosen als auch die vermeintliche Heilung sozialer Missstände zuständig sind. Und das Geld dafür kommt nur zum geringsten Teil von Spenden, sondern vom Steuerzahler. Wüllenweber stellt die blasphemische Frage, für die ihn viele hassen werden: Wächst die Zahl der Hilfsbedürftigen wirklich so rasant wie die Zahl der Helfer?

Wüllenwebers Buch ist ein Befreiungsschlag. Es könnte der Beginn einer Debatte über die radikalen Veränderungen sein, die die deutsche Gesellschaft gleichzeitig an ihrem unteren und am oberen Rand durchmacht.

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