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Politische Debatte Die Republik im Umfragewahn

Die Niedersachsenwahl machte deutlich, dass Wahlforscher und Demoskopen nicht nur Beobachter sind, sondern auch Akteure in der politischen Arena. Wir leben in einer Umfragedemokratie.

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Wie Sie besser mit Niederlagen umgehen
Der Spitzenkandidat zur Landtagswahl in Niedersachsen, Stephan Weil (SPD, l.), und Niedersachsens Ministerpraesident David McAllister (CDU) Quelle: dapd
RückzugZugegeben, Politiker müssen trotz Niederlagen gleich darauf wieder in die Kameras lächeln und auch mitunter katastrophale Ergebnisse erklären. Grundsätzlich ist das aber der falsche Weg, erklärt die Kommunikationstrainerin Anja Gräfin von Kanitz. "Man sollte den Schmerz erst einmal in seinem engsten Kreis verarbeiten. Sowohl emotional als auch körperlich ist das in dieser Phase des Schmerzes ungeheuerlich wichtig", sagt sie. Also erst einmal einigeln und den Rückschlag in Ruhe verdauen. "In dieser Phase, macht es keinen Sinn an die Öffentlichkeit zu treten und irgendwelche Statements zu geben", ist sich die Beraterin sicher. Und sich ein oder zwei Tage bei Freunden oder dem Partner auszuheulen ist völlig in Ordnung. Quelle: Fotolia
FehleranalyseJetzt bloß nichts verdrängen: Nach der Phase der emotionalen Aufarbeitung geht es an die Fehleranalyse. Jetzt heißt es Kopf einschalten und sich fragen: Was hätte ich anders machen können? Was war mein Anteil? Was war fremder Anteil? "Das ist sehr wichtig, denn nur so kann man sich auch von dem Geschehen lösen. Sonst läuft man Gefahr, dass da bei einigen ein Trauma hängen bleibt", sagt Anja Gräfin von Kanitz. Quelle: Fotolia
Fehler zugebenVor allem soll man Niederlagen auf eine reife Art und Weise zu begegnen, sagt die Beraterin. Das lässt sich leider nur an Niederlagen trainieren, ist aber unumgänglich. "Man sieht ja häufig im öffentlichen Raum, dass es sehr unreife Verarbeitungsmuster gibt, mit Fehlern umzugehen", sagt sie. Fehler zu leugnen, und so zu tun, als ob alle anderen verrückt wären ist der falsche Weg. Auch wenn Prominente wie der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg diese Taktik lange durchgehalten haben, schadet sie nur dem Image und der Glaubwürdigkeit. Da lieber ehrlich sagen: Ich habe etwas falsch gemacht. Quelle: Fotolia
Trotzreaktionen vermeidenNicht jede Niederlage hat mit Schuld zu tun. Manchmal sind auch einfach unglückliche Umstände oder Pech im Spiel. Gerade in diesen Fällen ist es ein Fehler, wenn man trotzig und aggressiv wird und die Schuld bei anderen sucht. "Auch bei Managern kommt das nicht gut: bei Erfolgen stellen sie sich ins Rampenlicht, bei Misserfolgen schicken sie ihre Mitarbeiter vor", sagt die Kommunikationstrainerin. Selbst wenn einen gar keine Schuld trifft, muss man lernen, so ein Geschehen nüchtern aufzuarbeiten. Quelle: Fotolia
Im Zweifelsfall Hilfe holenWer mit der Aufarbeitung seiner persönlichen Schlappe überfordert ist, sollte sich nicht schämen, sich Hilfe zu holen, empfiehlt von Kanitz. "Es müssen nicht unbedingt Profis sein, aber es müssen auf jeden Fall Leute sein, die kein eigenes Interesse haben." Vorwürfe wie 'Habe ich Dir doch gesagt, dass das nichts bringt', helfen nicht weiter. "Bei einem Manager, der für das Schicksal von Mitarbeitern verantwortlich ist oder über zig Millionen Euro bestimmen muss, kommt das Problem hinzu, dass sie von im eigenen Unternehmen von Konkurrenten umstellt sind. Dann müssen sie sich fragen: Mit wem kann ich offen reden?", so von Kanitz. Quelle: Fotolia
Ziele überdenkenOb nun alleine oder mit der Unterstützung von Außen - am Ende der Fehleranalyse müssen die persönlichen Ziele auf den Prüfstand: Es kann durchaus der Fall sein, dass man die vorherigen Ziele wieder anpeilt und bei seiner Strategie bleibt. Es kann aber auch sein, dass man nach der Analyse, sagt: Wir haben die Dinge falsch eingeschätzt. Nun müssen wir die Konsequenzen ziehen und Dinge ändern. "Leute, die unreife Verarbeitungsmuster haben, ihren Anteil nicht sehen wollen oder die Schuld bei anderen suchen, sind dazu verdammt, immer wieder die gleichen Fehler zu machen", ist sich von Kanitz sicher. Quelle: Fotolia

Um Erklärungen war keiner verlegen. Die Landtagswahlen in Niedersachsen waren nicht nur verteufelt knapp, sondern entsprachen auch nicht den Erwartungen. Und trotzdem gab es für das, was passiert war, exakt passende Erklärungen der Wahlforscher. Wer nach den ersten Hochrechnungen am Abend des 20. Januar erwartet hätte, dass die Umfrage-Institute und ihre Auftraggeber ratlos sind, angesichts der Unterschiede zu ihren Umfrageergebnissen der Wochen zuvor, sah sich getäuscht.

Alle Institute hatten die CDU vorher zwischen 39 und 41 Prozent gesehen, statt 36 Prozent, und die FDP knappste den Umfragen zufolge an der 5 Prozent-Hürde herum, während sie tatsächlich fast doppelt so viele Stimmen (9,9 Prozent) schaffte. Die summierte Abweichung der Umfragewerte vom Wahlergebnis lag bei allen Wahlforschungsinstituten bei 10,0 Prozentpunkten (Forschungsgruppe Wahlen) und mehr. Aber die Demoskopen konnten auch das wiederum demoskopisch erklären: Die CDU hat dem Koalitionspartner eben Stimmen „ausgeliehen“.

In den beiden Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen unmittelbar vor dem Urnengang, die das ZDF traditionellerweise nicht veröffentlicht, hätte sich der Anstieg der FDP-Wähler deutlich gezeigt, sagt Vorstandsmitglied Andrea Wolf. Und vor allem hätte sich gezeigt, dass 80 Prozent der bekennenden FDP-Wähler eigentlich die CDU am liebsten mögen. Ähnliches sagt auch Richard Hilmer, ihr Konkurrent von Infratest-Dimap. Zwei Drittel der FDP-Zweitstimmenwähler hätten ihr Votum selbst als "Leihstimme" bezeichnet.

Der Niedergang der FDP
Machtwechsel in der FDP?Viele Parteimitglieder geben ihm die Schuld: Dem Parteivorsitzenden Philipp Rösler. Seit Wochen schon wird darüber diskutiert, ob Rösler nach einem niedersächsischen Wahldebakel zurücktritt. Noch am Freitag vor der Wahl bezweifelte dies FDP-Bundestagsfraktionsvorsitzender Rainer Brüderle. Allerdings fordert er, dass der kommende Parteitag vorgezogen wird – an dem auch die Wahl zum Parteivorsitzendem ansteht. Bisher ist der Parteitag für Mai 2013 geplant. Rainer Brüderle werden gute Chancen zugerechnet Rösler abzulösen. Quelle: dpa
Rösler: Vom Hoffnungsträger zum BuhmannRösler kommt nach den Wahlniederlagen im Frühjahr 2011 zum Zug: Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg: Die FDP kassiert gleich drei krachende Wahlniederlagen. In Mainz fliegen die Liberalen nicht nur aus der Regierung, sondern auch aus dem Landtag. Sie bekommen nur noch 4,2 Prozent der Stimmen, 3,8 Prozent weniger als fünf Jahre zuvor. Auch in Sachsen-Anhalt ist für die FDP kein Platz im Parlament, die Partei scheiterte mit 3,8 Prozent klar an der Fünf-Prozent-Hürde. In Baden-Württemberg fällt die FDP von 10,7 auf 5,3 Prozent. Grün-Rot übernimmt die Macht. Damaliger Buhmann ist Röslers Vorgänger Guido Westerwelle, der von seinem Amt zurücktritt. Quelle: dpa
Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler wird am 13. Mai in Rostock mit 95,1 Prozent der Stimmen zum neuen FDP-Vorsitzenden gewählt. „Ab heute wird die FDP liefern“, kündigt er in seiner Antrittsrede an. Quelle: dapd
Trotz Führungswechsels verharren die Liberalen im Umfragetief. Die FDP startet einen Verzweiflungsversuch, um die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern zu ihren Gunsten zu entscheiden: Sie macht auf Wahlplakaten Stimmung gegen die Einführung von Eurobonds. Der Erfolg bleibt aus, die FDP verliert 6,8 Prozent und fliegt aus dem Landtag. Quelle: dpa
In Berlin folgt das nächste Fiasko. Die FDP holt gerade einmal 1,8 Prozent der Stimmen zum Berliner Abgeordnetenhaus und liegt damit hinter der NPD und nur knapp vor der Tierschutzpartei. Quelle: dapd
Rösler beteuert anschließend, dass die FDP ihren europäischen Kurs nicht verlassen wolle und beharrt darauf, dass eine „geordnete Insolvenz“ Griechenlands eine Option bleiben müsse. Gehört wird der Parteivorsitzende nicht, die Euro-Rettung wird von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Brüssel gestaltet. Die FDP trägt ihre Rettungspläne mit, die Basis murrt. Eine Gruppe um den FDP-Abgeordneten Frank Schäffler sammelt mehr als 3500 Unterschriften von Parteimitgliedern und erzwingt damit einen Mitgliederentscheid zum Europa-Kurs der Liberalen. Die Euro-Rebellen um Schäffler wollen die FDP in dem Entscheid gegen den Willen der FDP-Führung um Rösler auf ein Nein zum geplanten Euro-Rettungsfonds ESM festlegen. Quelle: dpa
Der Entscheid stiftet Unruhe in der Partei. Die Initiatoren werfen der Parteispitze Behinderung vor. Rösler und Lindner ziehen heftige Kritik auf sich, als sie vor Ablauf des Entscheids öffentlich die Erwartung äußern, dass die nötige Mindestbeteiligung von einem Drittel der Mitglieder verfehlt werde. Quelle: dpa

Aus diesem Befund wurde in den Tagen danach von den professionellen Wahldeutern in Redaktionen und Parteien die angebliche „Leihstimmenkampagne“ der CDU gemacht. Journalisten – die meisten hatten die FDP zuvor auf Basis der Umfrageergebnisse wochenlang totgeredet – und Politiker außerhalb der FDP hatten die durch die Wahlforscherei scheinbar belegte These gleichermaßen dankbar aufgegriffen. Selbst in der CDU schienen viele daran zu glauben, so dass bald angebliche Schwüre kolportiert wurden, dass man so etwas nie wieder tun werde. Kaum einer machte sich die Mühe, in der erst wenige Tage und Wochen alten Wahlkampfberichterstattung nachzulesen. Da war nämlich nirgendwo die Rede von einer Kampagne der niedersächsischen CDU, die FDP zu wählen. Es gab sie schlicht nicht, die Leihstimmenkampagne. Weder David McAllister noch andere CDU-Wahlkämpfer haben ihre Wähler aufgefordert, die FDP zu wählen.

Die Demoskopen selbst hatten das getan. Denn ihre Umfragen machen taktisches Wählen erst möglich. Was für die Quantenmechanik gilt, gilt auch für das Wahlverhalten der Gegenwart: Messungen beeinflussen das gemessene Objekt. Wer nicht weiß, dass die FDP anscheinend knapp an der 5-Prozent-Hürde scheitern könnte, und damit als Koalitionspartner ausfallen könnte, der hat keinen Grund statt der eigentlich favorisierten CDU die FDP zu wählen. All die professionellen Wahlforscher, die die FDP vor der Wahl tot redeten, haben die taktische Reaktion der FDP-wählenden CDU-Freunde erst herausgefordert. So blöd sind CDU-Wähler nicht, dass sie für diese Erkenntnis eine Kampagne der CDU brauchen. Aber die FDP-Schlechtreder brauchten die Legende von der Leihstimmenkampagne, um den Ansehensverlust durch die Fehlprognose auszuwetzen.  

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