Politologe Burak Çopur „Erdoğan könnte die Wirtschaftskrise für seine Zwecke nutzen“

Die Bundesregierung muss endlich klare Kante gegen Erdoğan zeigen. Der Politologe Burak Çopur sieht nicht nur die Türkei, sondern auch den inneren Frieden Deutschlands gefährdet.

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Erdogan-Anhänger in Deutschland. Quelle: dpa Picture-Alliance

In der deutschen oder niederländischen Öffentlichkeit werden die Schimpfkanonaden Erdoğans und seiner Anhänger als absurde Entgleisungen empfunden. Bei Türken, auch den hier lebenden scheint das anders zu sein. Warum?
Das ist eine bewusst kalkulierte Strategie Erdoğans. Er spielt auf der nationalistischen Klaviatur, um die Reihen seiner Anhänger zu schließen und die noch nicht festgelegten Wähler für sein Präsidialsystem zu gewinnen. Der türkische Nationalstolz ist tief verankert, gehört sozusagen zur DNA der Türken. Es ist abstrus, aber sogar Kemal Kılıçdaroğlu, der Chef der Oppositionspartei CHP – die zur Sozialistischen Internationale gehört – hat sich hinter die Regierung gestellt und unterstützt die Forderung nach Sanktionen gegen die Niederlande. Aus Angst vor dem Verlust nationalistischer Wähler. Man sieht daran, dass Erdoğans Masche in der türkischen Politik funktioniert.

Auch langfristig?
Das kann kurzfristig Erfolg haben. Muss aber nicht. Denn die Menschen in der Türkei haben ganz andere Sorgen. Hier gilt nach wie vor die Regel: “It's the economy, stupid!“, das heißt, die Wirtschaft kriselt und die Zuspitzung des Konflikts mit Deutschland und den Niederlanden verschärft das. Ausländisches Kapital fließt nicht wie früher und die Touristen bleiben aus. Gerade hat das niederländische Außenministerium eine Reisewarnung für die Türkei ausgesprochen. Erdoğan mag von der Konfrontation kurzfristig profitieren. Diese These würde nur die Annahme des "rally round the flag"-Effekts aus der Politikwissenschaft stützen, das heißt, es käme tendenziell zu einer starken, aber kurzfristigen Zunahme der Unterstützung für die Regierungs- und Staatschefs bei Krisensituationen, die dann aber wieder schnell abfiele.

Burak Çopur ist promovierter Politikwissenschaftler, Türkei-Experte und Migrationsforscher und lehrt am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen.

Was würde passieren, wenn Erdoğan das Referendum verlöre?
Alle Umfragen für das Referendum sehen bisher das Nein-Lager im Vorsprung. Das bereitet Erdoğan große Angst. Ein Scheitern des Referendums wäre ein Befreiungsschlag für die Opposition und könnte der Anfang vom Ende des Erdoğan-Regimes sein. Weil er weiß, dass es um sein politisches Schicksal geht, setzt er alles auf eine Karte, trägt innertürkische Konflikte nach Deutschland und verschärft hierzulande die Spaltung der türkischen Community. Erdoğan hat sich in eine Win-Win-Situation gebracht. Wenn er oder seine Leute nicht auftreten dürfen, kann er sich als Opfer böser ausländischer Mächte inszenieren. Wenn sie auftreten dürfen, wird er sich das als Triumph auf die Fahne schreiben: Er hätte nach seiner Großmachtsfantasie dann das Abendland in die Knie gezwungen.

Also wirkt Appeasement gegenüber Erdoğan nicht?
Die bisherige Appeasement-Politik der Bundesregierung ist zum Scheitern verurteilt. Erdoğan ist als Straßenkämpfer im rauen Hafenviertel Kasımpaşa in Istanbul aufgewachsen. Mit solchen Leuten haben europäische Politiker wie Angela Merkel kaum Erfahrung. Erdoğan verhält sich nämlich wie ein Schulhof-Schläger. Wenn man ihm keine Grenzen setzt, verliert man zuerst sein Spielzeug, dann den Schulranzen. Irgendwann sind die Kinder und Lehrer dann so eingeschüchtert, dass er meint, er könne selbst der Schulleiter sein. Wir haben ein Versagen der europäischen Türkei-Politik erlebt, die es zuließ, dass Erdoğan mit seinen Hass-Tiraden so weit kommen konnte. Man hätte viel früher klare Kante zeigen müssen. Jetzt ist das Kind schon fast in den Brunnen gefallen.

„Die Integrationspolitik wurde klar verschlafen"

Wie nehmen die Türken hier in Deutschland die Haltung der Bundesregierung wahr?
Erdoğan-kritische Türkeistämmige haben ein Problem mit der Position der Bundesregierung, die die Erdoğan-Leute hier auftreten ließ. Denn mit dem Export innertürkischer Konflikte heizen die AKP-Politiker auch den deutschen Rechtspopulismus an. Dessen Türkenfeindschaft soll seine Anhänger zusammen schweißen. Innertürkische Konflikte plus das Erstarken des deutschen Rechtspopulismus sind aber ein Gift für das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Türkeistämmigen. Diese Kombination ist ein hochexplosives Gemisch und eine Gefahr für den inneren Frieden in der Bundesrepublik. Ich weiß nicht, ob unseren Politikern in Berlin wirklich klar ist, wie sehr Erdoğan zündelt und mit dem Feuer spielt: Er hat die Bilder von gewalttätigen Protesten in den Niederlanden bewusst ausgelöst. Die niederländische Regierung ist im klaren Recht, dass sie die Auftritte nach den Erpressungsversuchen aus Ankara unterbunden hat. Es geht schließlich um die Souveränitätsrechte eines EU-Staates. Ich bin froh, dass sich die Bundeskanzlerin endlich hinter die Niederlande gestellt hat. Das ist ein richtiges und wichtiges Signal der Solidaritätsbekundung aus Europa nach Ankara.

Merkel weist türkische Kritik an Bundesregierung zurück
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Kritik der türkischen Regierung an dem abgesagten Auftritt von Justizminister Bekir Bozdag in Gaggenau zurückgewiesen. Die Entscheidung über solche Versammlungen liege in Deutschland auf der kommunalen Ebene und nicht bei der Bundesregierung, sagte Merkel am Freitag bei einem Besuch in Tunis. Merkel kritisierte zudem erneut die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei im Zusammenhang mit der Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel. Gerade deshalb sei die Betonung wichtig, dass in Deutschland diese Rechte uneingeschränkt gelten würden. Zu der Ankündigung des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu, Deutschland drohten nach der abgesagten Veranstaltung mit Bozdag Konsequenzen, nahm Merkel keine Stellung. Quelle: REUTERS
Joachim Gauck Quelle: dpa
Heiko Maas (SPD) Quelle: dpa
Das Auswärtige Amt Quelle: dpa
Türkischer Justizminister Bekir Bozdag Quelle: dpa
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu Quelle: AP
CHP-Chef und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu Quelle: dpa

Das Erdoğan-Regime ist also auch eine Gefahr für Deutschland?
Ich sage ganz unabhängig von der Lage in der Türkei: Wir können unsere deutsche Politik nicht nur an der Innenpolitik der Türkei orientieren, sondern müssen auch auf unsere eigenen Interessen, vor allem den Schutz der Demokratie und die Gewährleistung der inneren Sicherheit, achten. Es reicht schon, wenn Türkeistämmige jeden Tag von der Massenpropaganda der türkischen Medien berieselt werden. Wir dürfen aber nicht weiter das Virus des Autoritarismus und der Gewaltverherrlichung in unsere Gesellschaft hereinlassen, sondern Europa muss, soweit es geht, die Schotten dicht machen gegen den ,Schwarzen Tod‘ des türkischen Regimes, sonst befällt er unsere Gesellschaft auch. Es ist ein falsches Verständnis von Liberalität in Deutschland, wenn Toleranz gegenüber den Intoleranten erwartet wird. Denn diese inszenieren sich als Opfer, während sie im eigenen Land jeden Tag Journalisten, darunter auch Deniz Yücel, und Oppositionelle einsperren. Professoren und Kollegen von mir sitzen im Gefängnis, etwa 5000 Wissenschaftler, darunter viele renommierte, sind entlassen worden. Hier können wir nicht einfach wegsehen.

Offenbart die derzeitige Lage nicht auch das Scheitern der Integration bei vielen Türkeistämmigen?
Ja, leider verlieren wir einen großen Teil der türkischen Community an Erdoğan. Das Problem hat zwei Ebenen. Die eine Frage ist, was in der deutschen Politik verschlafen worden ist. Die andere, was in der türkeistämmigen Bevölkerung schief gelaufen ist. Die Integrationspolitik wurde klar verschlafen. 1961 kamen die ersten türkischen Gastarbeiter, erst 2005 kam Deutschland mit dem Zuwanderungsgesetz auf die Idee, dass diese Menschen verbindlich Deutsch zu lernen haben. Die linken Träumer dachten, Integration ist ein Selbstläufer. Die Konservativen glaubten, Deutschland sei kein Einwanderungsland, und steckten den Kopf in den Sand. Noch heute sind die Türkeistämmigen in Deutschland strukturell benachteiligt und es fehlt ihnen die gesellschaftliche Teilhabe. Solche Ausgrenzungserlebnisse haben bei vielen Türkeistämmigen zur Abgrenzung geführt.

Zitate von Deniz Yücel

Und davon profitiert jetzt Erdoğan?
Erdoğan macht für diese Menschen die Arme auf, gibt ihnen Heimatgefühl, Wärme, Identität. Sie können sich mit seiner Biographie identifizieren. Nämlich der eines Underdogs, der sich gegen die Eliten durchgesetzt hat. Ein Mann von ganz unten, der es endlich den Deutschen zeigt. Deshalb wirkt Erdoğan gerade auch für die jungen Türken in Deutschland wie ein cooler Popstar.

„Die türkische Wirtschaft steckt in der Krise"

Er bedient also diejenigen, die sich zu kurz gekommen fühlen?
Nicht nur. Man darf nicht glauben, dass die Erdoğan-Anhänger in Deutschland alle Außenseiter sind. Die Forschung zeigt, dass der Schmerz der Diskriminierung umso tiefer sitzt, je gebildeter die Migranten sind. Denn je höher die Bildung, desto stärker die Wahrnehmung von Diskriminierungserfahrungen. Nehmen Sie Mustafa Yeneroğlu, der für die Auslandspropaganda des Erdogan-Regimes zuständig ist. Er hat in Köln Jura studiert und hoffte wohl auf ein Angebot der CDU. Und nun ist er Abgeordneter für die AKP in der Türkei. Die Versäumnisse der Integrationspolitik haben mit dazu beigetragen, dass nun diese in Deutschland aufgewachsenen Türken einem Diktator huldigen, der sich auch noch für die Einführung der Todesstrafe einsetzt.

Und was ist bei den Türken selbst schiefgelaufen?
Das Machogehabe Erdoğans und der Führerkult um ihn fügen sich sehr gut in die patriarchalischen Familienstrukturen in der türkischen Community. Hinzu kommt der Einfluss der Propaganda in den türkischen Medien. Deren Antennen sind nach Ankara und nicht nach Berlin gerichtet. Und darum gehen deren Zuschauer davon aus, dass Erdoğan nicht die Diktatur bringt, sondern die Demokratie fördern wird. Und dass die Todesstrafe etwas Gutes sein kann.

"Annäherung an die EU immer schwieriger"
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dpa
Außenminister Sigmar Gabriel Quelle: dpa
Bundesjustizminister Heiko Maas Quelle: AP
FDP-Bundesvorsitzener Christian Lindner Quelle: dpa
Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu Quelle: dpa
Axel-Springer- Vorstandschef Mathias Döpfner Quelle: dpa
Menschenrechtsorganisation Amnesty International Quelle: REUTERS

Wie wichtig ist für Erdoğan-Anhänger in Deutschland der Islam?
Der kommt zu den beiden anderen Aspekten hinzu. Islam und Türkentum sind schon immer die Grundpfeiler der türkischen Staatsideologie gewesen. Nun wird allerdings die Religion missbraucht und für politische Zwecke instrumentalisiert und dieser politische Islam über die gleichgeschalteten türkischen Massenmedien in die Wohnzimmer der Menschen getragen.

Blicken wir auf die Türkei selbst. Wie entscheidend für Erdoğans politischen Erfolg ist die wirtschaftliche Entwicklung? Üblicherweise wird seine Beliebtheit vor allem mit den großen Wohlstandsgewinnen in seiner Regierungszeit erklärt.

Die türkische Wirtschaft steckt in der Krise. Und sie ist die Achilles-Ferse des Erdoğan-Regimes. Aber ob eine schwache Wirtschaft letztlich Erdoğan schwächt, ist nicht sicher. Er könnte vielleicht sogar die Wirtschaftskrise nutzen, um weiter zu polarisieren und die Gesellschaft zu spalten und Sündenböcke für das eigene Versagen zu finden. Erinnern wir uns nur an unsere eigene deutsche Geschichte.

Und die Sündenböcke wären?
Die Kurden, die Aleviten, die dunklen Mächte des Auslands. Wenn Erdoğan die Wirtschaftskrise durch das Aufheizen gesellschaftlicher Konflikte zu lösen versucht, dann kann die Türkei ethno-religiöse Konflikte noch stärker als bisher zu spüren bekommen. Das würde bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen bedeuten. Langfristig kann aber ein Ein-Mann-Staat in einem Land von 80 Millionen Menschen mit derartiger Heterogenität und ethno-religiösen Konflikten wie der Kurden- und der Alevitenfrage nicht bestehen. Damit könnte es sich zu einem Syrien 2.0 entwickeln. Es ist deshalb kein Zufall, dass die von Erdoğan gewünschte Verfassung mehr dem Assad-Regime ähnelt als einer westlich-demokratischen Verfassung.

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