Politologe über den Armuts- und Reichtumsbericht „Die Bundesregierung verschleiert den Reichtum“

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Armut trotz Arbeit

Aber die Deregulierung ist doch einer der Erfolgsfaktoren unserer Wirtschaft. 43,5 Millionen Menschen sind in Deutschland in Arbeit – so viele wie noch nie. Die Arbeitslosenquote ist seit 2005 fast halbiert worden auf inzwischen sechs Prozent.

Das mag sein, manche Menschen haben sogar mehrere Jobs. Aber die Frage ist doch, warum nimmt die Armut zu, obwohl die Arbeitslosigkeit stark zurückgegangen ist? Das ist doch scheinbar paradox! Dass Armut trotz Arbeit existiert, hat damit zu tun, dass sich die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse vieler Menschen in den letzten Jahren und Jahrzehnten verschlechtert hat.

Der enorme Anstieg der Sozialausgaben aufgrund der Zuwanderung führt nicht etwa zu Sparanstrengungen, sondern zum Gegenteil. Der Politik scheint jegliches Bewusstsein für die Ausgabendrosselung abhanden gekommen zu sein.
von Ferdinand Knauß

Welche weiteren Ursachen sehen Sie?

Eine Steuerpolitik nach dem Matthäusprinzip, das besagt, man gibt den Reichen und nimmt den Armen: So ist der Spitzensteuersatz mehrfach gesenkt worden, aber auch die Körperschaftsteuer und die Kapitalertragsteuer – davon profitieren in der Regel diejenigen, die schon vermögend sind. Gleichzeitig ist die Mehrwertsteuer erhöht worden, was diejenigen, die wenig Einkommen haben, überproportional trifft. Auch der Um- und Abbau des Sozialstaates hatte seinen Anteil daran, dass die soziale Ungleichheit zunimmt.

Nun explodieren die Sozialkosten schon jetzt. Nach einem gigantischen Anstieg in den Nachkriegsjahrzehnten ist die Sozialleistungsquote dank der Agenda 2010 trotz schwachen Wirtschaftswachstums auf 26,8 Prozent zurückgegangen. In jüngster Zeit stieg sie – trotz starken Wirtschaftswachstums – wieder auf 29,4 Prozent.

In den skandinavischen Ländern ist die Sozialleistungsquote deutlich höher. Das Ansteigen der Sozialleistungsquote ist ein Indiz dafür, dass die sozialen Probleme zugenommen haben, weil es mehr Armut gibt. Laut Statistischem Bundesamt liegt die Armutsrisikoquote bei 15,7 Prozent. In den 1990er-Jahren war sie fast fünf Prozentpunkte niedriger.

Undifferenziert und sentimental wird über Armut in Deutschland gesprochen. Wenn der Sozialstaat und damit der innere Frieden langfristig bewahrt bleiben sollen, muss damit endlich Schluss sein.
von Ferdinand Knauß

Nahles hatte angekündigt, in diesem Bericht das Thema „Reichtum“ stärker unter die Lupe nehmen zu wollen. Ist das aus Ihrer Sicht gelungen?

Der Reichtum spielt in diesem Bericht tatsächlich eine größere Rolle als in früheren, aber letztlich wird er immer noch stiefmütterlich behandelt. Um den Reichtum zu erfassen, sind 130 Hochvermögende befragt worden. Deren Durchschnittsvermögen beträgt 5,3 Millionen Euro. Das ist weiß Gott keine Armut, wird der Konzentration des Reichtums in wenigen Händen allerdings nicht gerecht. Es gibt hierzulande weit über 100 Milliardäre, hyperreiche Familien wie die Albrechts, die Schefflers, die Quandt-Klattens und wie sie alle heißen. Diese riesigen Vermögen lässt der Regierungsbericht links liegen. Mit dem Reichtum geht die Bundesregierung schonend um, ja sie verschleiert ihn.

Inwiefern?

Einkommensreich nennt der Bericht jeden, der das Zwei- bis Dreifache des mittleren Nettoeinkommens verdient. Ab einem Nettoeinkommen von 3500 Euro pro Monat gehört ein Alleinstehender damit zu den Reichen. Das entspricht dem Gehalt eines Studienrats. Ein Milliardär würde sich darüber kaputtlachen. So wird die Statistik über den wahren Reichtum verwässert und verfälscht. Bei den Vermögen genau das Gleiche: Die Bundesregierung gibt nur die Vermögenskonzentration der reichsten zehn Prozent an – da fällt auch ein großer Teil der Mittelschicht mit hinein.

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