Politologe über den Armuts- und Reichtumsbericht „Die Bundesregierung verschleiert den Reichtum“

Armutsforscher Christoph Butterwegge wirft der Bundesregierung die Verschleierung der sozialen Wirklichkeit vor. Allein das verspätete Erscheinen des 5. Armuts- und Reichtumsberichts sei ein Skandal.

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Ein Bettler vor dem Bundeskanzleramt in Berlin. Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Butterwegge, der 5. Armuts- und Reichtumsbericht hätte dem Parlament, einem Beschluss des Bundestags aus dem Jahr 2001 entsprechend, in der Mitte der Legislaturperiode vorgelegt werden sollen. Jetzt ist der Bericht mit eineinhalb Jahren Verspätung erschienen. Warum hat die Bundesregierung so lange gebraucht?

Christoph Butterwegge: In der Großen Koalition existieren offenbar große Meinungsverschiedenheiten, was Armut und Reichtum betrifft. Den Bericht mit so großer Verspätung zu veröffentlichen ist ein Skandal, weil eine Missachtung des Parlaments und der Öffentlichkeit. Das Kanzleramt und das Finanzministerium haben intensiv Begriffskosmetik an dem Berichtsentwurf von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles betrieben und dafür gesorgt, dass unliebsame Formulierungen abgeschwächt oder gestrichen wurden.

Zur Person

Zum Beispiel?

Im Ursprungsentwurf von Nahles beanstandete man Passagen, in denen es um die negativen Effekte von sozialer Ungleichheit, die Notwendigkeit einer Behebung der Verteilungsschieflage und die Möglichkeit der Einflussnahme wohlhabender Bevölkerungsgruppen auf Regierungsentscheidungen ging. Daraufhin entfielen grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Armut, Reichtum und Demokratie. Gestrichen wurde auch das Unterkapitel „Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit".

Gleich zu Beginn des Berichts heißt es: „Zehn Jahre nach Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise steht Deutschland heute – insbesondere auch im internationalen Vergleich – sehr solide da.“ Die Wirtschaft wachse kontinuierlich, die Beschäftigtenzahl sei auf Rekordniveau, die Reallöhne stiegen.

Das spiegelt die rosarote Sichtweise der Bundeskanzlerin und von Finanzminister Wolfgang Schäuble wider. Beide sagen, den Menschen in Deutschland gehe es momentan so gut wie noch nie, weshalb sie einen Armuts- und Reichtumsbericht im Grunde für Teufelszeug halten. Wer Themen wie soziale Gerechtigkeit oder soziale Ungleichheit in den Mittelpunkt rückt, redet aus ihrer Sicht das Land schlecht und stiftet Unfrieden. Der Bericht ist geprägt von der These, dass hierzulande zwar nicht alles gut ist, aber bald gut sein wird, weil die Auseinanderentwicklung zwischen Arm und Reich zehn Jahre zurückliegt.

Verglichen mit dem Großteil der Welt geht es den Menschen hierzulande auch gut – wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Wovon reden wir, wenn wir von Armut in Deutschland reden?

Man muss zwischen absoluter und relativer Armut unterscheiden. Absolut arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, etwa unter Hunger leidet. Relativ arm ist jemand, der zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen kann, aber gemessen am mittleren Einkommen seines Landes relativ wenig vom Wohlstand abbekommt und sich vieles nicht leisten kann, was für die große Mehrheit normal ist.

Das Regierungskabinett hat am Morgen den Fünften Armuts- und Reichtumsbericht verabschiedet. Nicht bei allen Bürgern sei der wirtschaftliche Aufschwung angekommen, sagte Arbeitsministerin Andrea Nahles im Anschluss.

In Deutschland reden wir also von relativer Armut.

Meistens ja, aber es gibt auch bei uns absolute Armut, wenngleich das viele übersehen oder übersehen wollen. Die absolute Armut ist in Deutschland zwar nicht so verbreitet wie in Entwicklungsländern. Aber dass es sie in Deutschland gibt, bestätigt auch der Armuts- und Reichtumsbericht. Er beschäftigt sich beispielsweise mit der extremsten Ausprägung von Armut: Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Es gibt in Deutschland 335.000 Wohnungslose und 39.000 Obdachlose mit zunehmender Tendenz. Wer in Anbetracht dieser Zahlen behauptet, den Menschen in Deutschland gehe es heute so gut wie noch nie, urteilt oberflächlich und undifferenziert. Zwar geht es vielen Menschen in Deutschland ausgesprochen gut, aber es gibt eben auch andere, denen es verdammt schlecht geht, manchen so schlecht wie noch nie.

Sie forschen seit Jahrzehnten über Armut. Von der wissenschaftlichen Warte aus gesehen, woran mangelt es dem Bericht?

Der Bericht vernachlässigt die gesellschaftlichen Ursachen von Armut, Reichtum und sozialer Ungleichheit. Seine Befunde sind überwiegend deskriptiver Natur. Konsequenzen werden kaum gezogen.

Welche Ursachen sehen Sie?

Erstens die Deregulierung des Arbeitsmarktes …

Armut trotz Arbeit

Aber die Deregulierung ist doch einer der Erfolgsfaktoren unserer Wirtschaft. 43,5 Millionen Menschen sind in Deutschland in Arbeit – so viele wie noch nie. Die Arbeitslosenquote ist seit 2005 fast halbiert worden auf inzwischen sechs Prozent.

Das mag sein, manche Menschen haben sogar mehrere Jobs. Aber die Frage ist doch, warum nimmt die Armut zu, obwohl die Arbeitslosigkeit stark zurückgegangen ist? Das ist doch scheinbar paradox! Dass Armut trotz Arbeit existiert, hat damit zu tun, dass sich die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse vieler Menschen in den letzten Jahren und Jahrzehnten verschlechtert hat.

Der enorme Anstieg der Sozialausgaben aufgrund der Zuwanderung führt nicht etwa zu Sparanstrengungen, sondern zum Gegenteil. Der Politik scheint jegliches Bewusstsein für die Ausgabendrosselung abhanden gekommen zu sein.
von Ferdinand Knauß

Welche weiteren Ursachen sehen Sie?

Eine Steuerpolitik nach dem Matthäusprinzip, das besagt, man gibt den Reichen und nimmt den Armen: So ist der Spitzensteuersatz mehrfach gesenkt worden, aber auch die Körperschaftsteuer und die Kapitalertragsteuer – davon profitieren in der Regel diejenigen, die schon vermögend sind. Gleichzeitig ist die Mehrwertsteuer erhöht worden, was diejenigen, die wenig Einkommen haben, überproportional trifft. Auch der Um- und Abbau des Sozialstaates hatte seinen Anteil daran, dass die soziale Ungleichheit zunimmt.

Nun explodieren die Sozialkosten schon jetzt. Nach einem gigantischen Anstieg in den Nachkriegsjahrzehnten ist die Sozialleistungsquote dank der Agenda 2010 trotz schwachen Wirtschaftswachstums auf 26,8 Prozent zurückgegangen. In jüngster Zeit stieg sie – trotz starken Wirtschaftswachstums – wieder auf 29,4 Prozent.

In den skandinavischen Ländern ist die Sozialleistungsquote deutlich höher. Das Ansteigen der Sozialleistungsquote ist ein Indiz dafür, dass die sozialen Probleme zugenommen haben, weil es mehr Armut gibt. Laut Statistischem Bundesamt liegt die Armutsrisikoquote bei 15,7 Prozent. In den 1990er-Jahren war sie fast fünf Prozentpunkte niedriger.

Undifferenziert und sentimental wird über Armut in Deutschland gesprochen. Wenn der Sozialstaat und damit der innere Frieden langfristig bewahrt bleiben sollen, muss damit endlich Schluss sein.
von Ferdinand Knauß

Nahles hatte angekündigt, in diesem Bericht das Thema „Reichtum“ stärker unter die Lupe nehmen zu wollen. Ist das aus Ihrer Sicht gelungen?

Der Reichtum spielt in diesem Bericht tatsächlich eine größere Rolle als in früheren, aber letztlich wird er immer noch stiefmütterlich behandelt. Um den Reichtum zu erfassen, sind 130 Hochvermögende befragt worden. Deren Durchschnittsvermögen beträgt 5,3 Millionen Euro. Das ist weiß Gott keine Armut, wird der Konzentration des Reichtums in wenigen Händen allerdings nicht gerecht. Es gibt hierzulande weit über 100 Milliardäre, hyperreiche Familien wie die Albrechts, die Schefflers, die Quandt-Klattens und wie sie alle heißen. Diese riesigen Vermögen lässt der Regierungsbericht links liegen. Mit dem Reichtum geht die Bundesregierung schonend um, ja sie verschleiert ihn.

Inwiefern?

Einkommensreich nennt der Bericht jeden, der das Zwei- bis Dreifache des mittleren Nettoeinkommens verdient. Ab einem Nettoeinkommen von 3500 Euro pro Monat gehört ein Alleinstehender damit zu den Reichen. Das entspricht dem Gehalt eines Studienrats. Ein Milliardär würde sich darüber kaputtlachen. So wird die Statistik über den wahren Reichtum verwässert und verfälscht. Bei den Vermögen genau das Gleiche: Die Bundesregierung gibt nur die Vermögenskonzentration der reichsten zehn Prozent an – da fällt auch ein großer Teil der Mittelschicht mit hinein.

Die soziale Spaltung verursacht politische Verwerfungen

Die ärmste Hälfte der Deutschen verfügt über 1 Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent mehr als die Hälfte des Nettovermögens besitzen, heißt es im Bericht.

Das DIW hat da deutlich verlässlichere Zahlen, an denen man erkennt, dass der Reichtum im Bericht statistisch systematisch unterschätzt wird. Das reichste Prozent besitzt demnach 37 Prozent des Nettovermögens. Das reichste Promille immer noch 21 Prozent – die Vermögenskonzentration liegt in der Spitze. Wenn ich fast jeden in der Mittelschicht für reich erkläre, verschwindet der wirkliche Reichtum aus der Statistik. So verharmlost man das Problem der wachsenden sozialen Ungleichheit, die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich. Nehmen Sie etwa Deutschlands reichstes Geschwisterpaar, Susanne Klatten und Stefan Quandt. Für das Jahr 2012 haben sie zusammen mit ihrer damals noch lebenden Mutter 700 Millionen Euro als damalige Rekorddividende aus ihren BMW-Aktien erhalten – in diesem Jahr wird ihre Dividende erstmals die Milliardengrenze übersteigen. Gleichzeitig stagnieren die Reallöhne seit der Jahrtausendwende, wenngleich es zuletzt moderate Steigerungsraten gab. Aber kein Gehalt ist in den vergangenen vier Jahren um fast die Hälfte erhöht worden, es sei denn das von Managern.

Die zehn reichsten Selfmade-Deutschen
Bernhard Broermann Quelle: dpa/dpaweb
Karl-Heinz Kipp Quelle: REUTERS
Günther Fielmann Quelle: dpa
Aloys Wobben Quelle: dpa/dpaweb
Wolfgang Marguerre Quelle: Octapharma, Creative Commons CC BY 3.0
Walter Droege Quelle: PR
Dietmar Hopp Quelle: dpa

Welche politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen befürchten Sie aus der zunehmenden sozialen Spaltung?

Die wachsende soziale Ungleichheit ist in zweierlei Hinsicht eine Gefahr für die Demokratie. Im ersten Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts war noch von einer „Krise der politischen Repräsentation“ die Rede. Die sozial Benachteiligten gehen nicht mehr wählen und nehmen keinen Einfluss mehr auf die politische Willensbildung. In den Nobelvierteln deutscher Großstädte liegt die Wahlbeteiligung bei mehr als 90 Prozent – in den sozialen Brennpunkten ist eine Beteiligung von 40 Prozent schon hoch. Unsere repräsentative Demokratie wird so im Grunde ausgehebelt.

Der zweite Punkt betrifft die Mittelschicht. Dort geht die Angst vor dem sozialen Abstieg um, was manche Menschen veranlasst, sich politisch eher nach rechts zu orientieren, besonders Angehörige des Kleinbürgertums. Der Aufstieg der NSDAP Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre, der Aufschwung der NPD gegen Ende der 1960er Jahre, als sie es fast in den Bundestag geschafft hätte, und auch der Höhenflug der AfD heute haben mit der Angst von Mittelschichtangehörigen zu tun, zwischen der Ober- und der Unterschicht zerrieben zu werden. Eine Regierungspolitik, welche die soziale Spaltung befördert, verursacht auch politische Verwerfungen. Ich sehe große Gefahren für die Demokratie, wenn diese soziale Polarisierung anhält und politisch nichts dagegen getan wird.

Nun hat Martin Schulz den Höhenflug der AfD fürs Erste ausgebremst. Mit ihm als Kanzlerkandidat schreibt sich die SPD, deren Mitglied Sie bis 2005 waren, wieder das Thema „soziale Gerechtigkeit“ auf die Fahne. Überzeugt er Sie?

Das Programm von Martin Schulz ist bisher zwar noch sehr vage, es lässt aber deutlich erkennen, dass Armutsbekämpfung nicht zu den Schwerpunkten seiner Agenda gehört. Er will etwas für diejenigen tun, die „hart arbeiten und sich an die Regeln halten“. Das ist gut und notwendig. Krankenschwestern, Erzieherinnen, Altenpfleger leisten viel und verdienen zu wenig. Wer es aber wirklich ernst meint mit der sozialen Gerechtigkeit, muss sich zuerst um diejenigen kümmern, denen es am schlechtesten geht – das tut Schulz aber nicht. Er wendet sich vor allem an Angehörige der Mittelschicht.

Woran machen Sie das fest?

Schulz räumt zwar ein, dass Fehler bei der Agenda 2010 gemacht worden sind, geht aber ihren Kern, Hartz IV, überhaupt nicht an. Er hat bisher nur eine Forderung erhoben, die Hartz IV betrifft, nämlich die Verdoppelung des Schonvermögens von 150 auf 300 Euro pro Lebensjahr. Das hilft aber nur denjenigen, die Vermögen haben – unter den Beziehern des ALG II sind das relativ wenige. Alle anderen Schulz-Forderungen betreffen das ALG I, was den Armen kaum hilft. Arm sind nämlich eher die, die als Langzeitarbeitslose oder „Aufstocker“ das ALG II beziehen.

Was würden Sie sich von einem Kandidaten Schulz wünschen?

Dass er nicht bloß die Leistungsgerechtigkeit in den Blick nimmt, sondern auch die Bedarfs- und die Verteilungsgerechtigkeit. Eine Steuerpolitik, die Reiche und ganz Reiche aus Gründen der Umverteilung von oben nach unten stärker belastet – das wäre eine Forderung, die sich aus der zunehmenden sozialen Spaltung ergäbe. Davon ist bei Schulz aber bisher nicht die Rede.

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