WirtschaftsWoche: Herr Butterwegge, der 5. Armuts- und Reichtumsbericht hätte dem Parlament, einem Beschluss des Bundestags aus dem Jahr 2001 entsprechend, in der Mitte der Legislaturperiode vorgelegt werden sollen. Jetzt ist der Bericht mit eineinhalb Jahren Verspätung erschienen. Warum hat die Bundesregierung so lange gebraucht?
Christoph Butterwegge: In der Großen Koalition existieren offenbar große Meinungsverschiedenheiten, was Armut und Reichtum betrifft. Den Bericht mit so großer Verspätung zu veröffentlichen ist ein Skandal, weil eine Missachtung des Parlaments und der Öffentlichkeit. Das Kanzleramt und das Finanzministerium haben intensiv Begriffskosmetik an dem Berichtsentwurf von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles betrieben und dafür gesorgt, dass unliebsame Formulierungen abgeschwächt oder gestrichen wurden.
Zur Person
Christoph Butterwegge war bis zu seiner Emeritierung 2016 Professor für Politikwissenschaft am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Im Februar 2017 war er Kandidat der Fraktion "Die Linke" bei der Bundespräsidentenwahl.
Zum Beispiel?
Im Ursprungsentwurf von Nahles beanstandete man Passagen, in denen es um die negativen Effekte von sozialer Ungleichheit, die Notwendigkeit einer Behebung der Verteilungsschieflage und die Möglichkeit der Einflussnahme wohlhabender Bevölkerungsgruppen auf Regierungsentscheidungen ging. Daraufhin entfielen grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Armut, Reichtum und Demokratie. Gestrichen wurde auch das Unterkapitel „Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit".
Gleich zu Beginn des Berichts heißt es: „Zehn Jahre nach Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise steht Deutschland heute – insbesondere auch im internationalen Vergleich – sehr solide da.“ Die Wirtschaft wachse kontinuierlich, die Beschäftigtenzahl sei auf Rekordniveau, die Reallöhne stiegen.
Das spiegelt die rosarote Sichtweise der Bundeskanzlerin und von Finanzminister Wolfgang Schäuble wider. Beide sagen, den Menschen in Deutschland gehe es momentan so gut wie noch nie, weshalb sie einen Armuts- und Reichtumsbericht im Grunde für Teufelszeug halten. Wer Themen wie soziale Gerechtigkeit oder soziale Ungleichheit in den Mittelpunkt rückt, redet aus ihrer Sicht das Land schlecht und stiftet Unfrieden. Der Bericht ist geprägt von der These, dass hierzulande zwar nicht alles gut ist, aber bald gut sein wird, weil die Auseinanderentwicklung zwischen Arm und Reich zehn Jahre zurückliegt.
Verglichen mit dem Großteil der Welt geht es den Menschen hierzulande auch gut – wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Wovon reden wir, wenn wir von Armut in Deutschland reden?
Man muss zwischen absoluter und relativer Armut unterscheiden. Absolut arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, etwa unter Hunger leidet. Relativ arm ist jemand, der zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen kann, aber gemessen am mittleren Einkommen seines Landes relativ wenig vom Wohlstand abbekommt und sich vieles nicht leisten kann, was für die große Mehrheit normal ist.
In Deutschland reden wir also von relativer Armut.
Meistens ja, aber es gibt auch bei uns absolute Armut, wenngleich das viele übersehen oder übersehen wollen. Die absolute Armut ist in Deutschland zwar nicht so verbreitet wie in Entwicklungsländern. Aber dass es sie in Deutschland gibt, bestätigt auch der Armuts- und Reichtumsbericht. Er beschäftigt sich beispielsweise mit der extremsten Ausprägung von Armut: Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Es gibt in Deutschland 335.000 Wohnungslose und 39.000 Obdachlose mit zunehmender Tendenz. Wer in Anbetracht dieser Zahlen behauptet, den Menschen in Deutschland gehe es heute so gut wie noch nie, urteilt oberflächlich und undifferenziert. Zwar geht es vielen Menschen in Deutschland ausgesprochen gut, aber es gibt eben auch andere, denen es verdammt schlecht geht, manchen so schlecht wie noch nie.
Sie forschen seit Jahrzehnten über Armut. Von der wissenschaftlichen Warte aus gesehen, woran mangelt es dem Bericht?
Der Bericht vernachlässigt die gesellschaftlichen Ursachen von Armut, Reichtum und sozialer Ungleichheit. Seine Befunde sind überwiegend deskriptiver Natur. Konsequenzen werden kaum gezogen.
Welche Ursachen sehen Sie?
Erstens die Deregulierung des Arbeitsmarktes …