Post-Pandemie Nischenmodelle werden zum neuen Mainstream

Aufgang oder Untergang? Nach der Pandemie stehen Industrie und Wirtschaft vor mehr als einem Neustart. Bisherige Nischenmodelle wie soziales und ökologisches Unternehmertum wird neuer Mainstream.  Quelle: dpa

Die größten Zukunftsrisiken sind bedingt durch Eingriffe in die Natur. Nach der Pandemie steht die Wirtschaft deshalb vor einer Neuordnung – damit der Wechsel gelingt, wird ein anderes Mindset allein nicht reichen. Ein Gastbeitrag.

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Dr. Daniel Dettling leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts. Dr. Stefan Tewes ist Professor für Digitale Transformation und Innovation und Director of Business Innovation am Zukunftsinstitut (www.zukunftsinstitut.de).

Erstmals in seiner Geschichte fand das World Economic Forum (WEF) in diesem Jahr nicht in Davos, sondern digital statt. Das Motto der globalen Wirtschaftselite versprach eine Agenda für die Zukunft nach Corona: „The Great Reset“. Laut WEF braucht es einen Neuanfang für eine gerechtere, nachhaltigere und widerstandsfähigere Zukunft. 

„Corona“ hat die Welt an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kollaps gebracht und die globalen Abhängigkeiten aufgezeigt. Wir sind Teil einer „immunologischen Risikogemeinschaft“ (Peter Sloterdijk). Folgt auf die weltweit größte Rezession seit der Großen Depression im Jahr 1929 endlich eine Wirtschaft, die gesellschaftliche und ökologische Kontexte einbezieht?

Die größten Zukunftsrisiken sind umweltbedingt

Laut dem „Global Risks Report“ des WEF liegen die größten Zukunftsrisiken für die globale Wirtschaft allesamt in der Natur. Vor zehn bis 15 Jahren gehörten zu den globalen Risiken noch klassische Wirtschaftsthemen: Finanzkrise, China-Absturz, Protektionismus und Staatsverschuldung. Die „neuen“ Risiken der Finanzwelt sind vor allem umweltbedingt: Hitzeperioden, Unwetter, Klimawandel, Biodiversität. Die Corona-Pandemie hat ebenfalls ihren Ursprung im Eingriff des Menschen in die Natur.

von Malte Fischer, Julian Heißler, Rüdiger Kiani-Kreß, Annina Reimann, Peter Steinkirchner

Für den Weltbiodiversitätsrat könnte Corona erst der Anfang sein. Dieser warnt vor einer Welle neuer und noch gefährlicherer Pandemien. Corona liefert die Steilvorlage für eine Aufbruchserzählung, die auch ohne die Pandemie längst fällig gewesen wäre. Aus Sicht der Zukunftsforschung erleben wir derzeit in der Wirtschaft keinen „Neustart“, sondern vielmehr den Durchbruch einer neuen und notwendigen Wirtschaftsordnung. Es geht um eine Wachablöse – Corona wird zum Beschleuniger der Zukunft.

Aus Nischenmodellen, wie soziales und ökologisches Unternehmertum, wird neuer Mainstream. Fragen wie Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit rücken stärker in den Fokus der Wirtschaft. Doch setzt sich mit dem Durchbruch der neuen strategischen Ausrichtung auch ein neues Mindset durch?

Alte Struktur oder neues System?

Corona bedeutet für die Wirtschaft eine Weggabelung. Ein Teil der Wirtschaft will möglichst schnell wieder zurück zur alten Normalität und ein business as usual. Der andere Teil kann oder will nicht mehr zurück und drängt nach vorne. Die Frage, die beantwortet werden muss: Wollen wir in alten Systemstrukturen beharren oder einen „Sprung“ in ein neues System wagen? Das Alte ist uns vertraut, suggeriert uns Sicherheit und Orientierung. Das Neue ist unbekannt und daher unsicher, es verlangt uns mehr Risikobereitschaft und damit mehr Mut ab. Ein neues System würde auf eine integrative Wirtschaft setzen.

Systeme wie Bildung und Gesundheit brauchen unternehmerisches und disruptives Denken, wenn sie in Krisenzeiten funktionieren sollen. Als zentrale Kompetenz einer globalen und komplexen Welt wird die Fähigkeit, vernetzt und systemisch zu denken, immer wertvoller. Es gilt, die Systeme Bildung, Gesundheit und Wirtschaft, Gesellschaft und Natur zu koppeln.

Wenn wir Pandemien, Klimawandel und die gesellschaftliche Spaltung überwinden wollen, braucht es übergreifende Lösungen und Bündnisse. Kein System ist ohne Kontext. Sicherheit, Freiheit, Wettbewerb und Wohlstand finden immer in Kontexten, in Zusammenhängen, statt. In der bisherigen Entkopplung der Systeme liegt die eigentliche Ursache für die real existierende gesellschaftliche Katastrophe. Für die nächste Zukunft müssen wir in größeren Kontexten denken. Ein globales Weltsystem liegt noch in weiter Ferne, ein europäisches Wertesystem dafür vor unserer Haustür.

Wie Europa gegen China eine Chance hat

Europa wird als Modell gegenüber den USA und China nur dann eine Chance haben und wieder vorne mitspielen, wenn es eine eigene Zukunftsidee und -identität entwickelt. Das europäische Modell steht für eine Vereinigung von Wirtschaft, Gesellschaft und Natur. Sein Zukunftswert ist die Abkehr der Zusammenführung von Teillösungen hin zu einer integrativen Betrachtung einer lebenswerten Welt. In der Pandemie hat die EU das Ziel einer Gesundheitsunion ausgerufen, eine gemeinsame Kraftanstrengung gegen künftige Pandemien und medizinische Katastrophen. Europa macht sich auf den Weg zu einem solidarischen, wertebasierten Staatenbund. 

Die Märkte der Zukunft sind grün (Ökologie), weiß (Gesundheit) und blau (Industrie und Dienstleistungen). Europas Unternehmen haben hervorragende Voraussetzungen, auf diesen Märkten erfolgreich zu sein. Die digitale und ökologische Transformation stellt die Unternehmen aber vor neue Herausforderungen. Notwendig ist ein radikales Umdenken, das sich mit ständigen Störungen auseinandersetzen muss.



Erfolg folgt aus dem Prozess der Selbsterneuerung

Um nicht Spielball der globalen Veränderungen zu werden, müssen Unternehmen verstehen, dass jegliche Form der Änderung aus ihnen selbst heraus erfolgen muss. Erfolg ist das, was aus diesem Prozess der Selbstveränderung folgt. Dazu müssen sie sich grundlegende Fähigkeiten des systemischen Denkens aneignen und Wirtschaft in zirkulären Prozessen, in ihren komplexen Wechselwirkungen und Rückkopplungen denken, um den Zukunftswert messen zu können. Die Entscheidung für das Neue ist eine Entscheidung gegen kurzfristige Ziele und für ein langfristiges Überleben. Zukunft ist keine lineare Projektion der Vergangenheit.

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Der Weg in ein neues Wirtschaften entsteht in der Dämmerung von wachsenden Staatsverschulden, mangelnden Technologiekompetenzen, einer schrumpfenden Relevanz führender Volkswirtschaften und einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung in Gewinner und Verlierer. Die Entscheidung für die Zukunft braucht offene Unternehmen, die den Mut haben, über sich selbst hinauszuwachsen. Und sie braucht eine Gesellschaft, die diesen Mut anerkennt und sich aneignet. Der Sinn von Freiheit liegt für die Philosophin Hannah Arendt im „Anfangenkönnen“. 

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