Prozess um Sanktionen Hartz IV? Deutschland sollte lieber Grundeinkommen testen

Grundeinkommen: Warum Deutschland statt Hartz IV ein Experiment starten sollte Quelle: DIW Berlin/Detlef Güthenke

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt darüber, ob Hartz-IV-Sanktionen verfassungswidrig sein könnten. DIW-Experte Jürgen Schupp hält das für wahrscheinlich – und schlägt eine Alternative vor.

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Das Bundesverfassungsgericht verhandelt ab Dienstag darüber, ob Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger verfassungswidrig sein könnten. Halten Sie die Sanktionen für sinnvoll?
Nein. Die guten Absichten, die vor mehr als zehn Jahren zum Abbau der damaligen Massenarbeitslosigkeit richtig gewesen sein mögen, haben leider mittlerweile die Angst vor einem sozialen Absturz bis in die Mittelschicht hineingetragen. Und Sanktionen, die bei Ablehnung der vom Job-Center als sinnvoll erachteten „Zumutbarkeiten“ greifen, sind dabei ein zentrales Element. Das betrifft etwa den Fall, der jetzt in Karlsruhe verhandelt wird.

In dem Prozess geht es um den Fall eines Mannes, dem zweimal die Leistungen gekürzt wurden. Er klagt, das sei verfassungswidrig, weil Hartz IV ja nur das Existenzminimum sichere. Wenn die Würde des Menschen unantastbar sei, wie es Artikel 1 des Grundgesetzes vorsieht, dann dürfe man von diesem Minimum nichts wegnehmen.
Auch für mich ist fraglich, ob die Zumutungen der Job-Agenturen nicht doch zu oft Artikel 1 unserer Verfassung über Gebühr verletzt haben. Die Sanktionspraxis muss grundsätzlich überprüft werden. Das belegen auch die vergleichsweise hohe Anzahl eingelegter Widersprüche bei Sozialgerichten zu verhängten Sanktionen sowie die Zahl der Urteile, die vielfach zugunsten der Hartz-IV-Empfänger entschieden wurden. Hinzu kommt übrigens noch, dass Menschen unter 25 Jahren schärfere Sanktionen bekommen. Das verletzt jedoch den Gleichbehandlungsgrundsatz unserer Verfassung.

Das Bundesverfassungsgericht berät über das Für und Wider von Hartz-IV-Sanktionen. Die politische Debatte aber sollte sich nicht in diesen Details verheddern, sondern Mut zum Experimentieren beweisen.
von Alexander Spermann

Erreichen die Sanktionen denn wenigstens ihr Ziel, Menschen in Arbeit zu bringen?
Ja, das belegen auch die empirischen Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Aber das Gesetz sieht auch als Ziel vor, dass „die Erwerbsfähigkeit einer leistungsberechtigten Person erhalten, verbessert oder wieder hergestellt wird“. Das impliziert, dass wenn eine zugemutete Arbeit aus subjektiver Sicht die eigene Erwerbsfähigkeit mindern würde, eine Sanktion ihre rechtliche Grundlage verlöre. Sie würde dann zur Nötigung wegen des Entzugs des sozio-kulturellen Existenzminimums. Noch schützt Artikel 12 des Grundgesetzes Bürger vor Arbeitszwang und Zwangsarbeit.

Was schlagen Sie stattdessen vor?
Der Übergang vom Arbeitslosengeld zum sogenannten Hartz IV sollte stärker auf den Einzelnen ausgerichtet werden. Das bedeutet vor allem, dass die bisherige Erwerbsbiographie stärker berücksichtigt und Weiter-, Fortbildungs- und Umschulungsbemühungen damit verknüpft werden. Der damalige SPD-Vorschlag von Martin Schulz eines Arbeitslosengeldes Q, also Qualifizierung, ging in diese Richtung. Dies mildert die Angst des vergleichsweise schnellen Abrutschens auf Mindestsicherungsniveau. Statt mit Sanktionen zu bestrafen, sollte mehr auf Instrumenten der Beratung, Förderung, Unterstützung sowie Begleitung in der schwierigen Phase von Langzeitarbeitslosigkeit gesetzt werden.

In einem Kommentar haben Sie die Idee eine deutschen Grundeinkommens-Experiments ins Spiel gebracht. Wie würde das aussehen? Was versprechen Sie sich davon?
Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen als rechtmäßig anerkennt, könnte der Gesetzgeber Alternativen erproben. Etwa, ob nachhaltige Integrationserfolge nicht größer sind, wenn Langzeitarbeitslose eine Grundsicherung bekämen, die nicht mit Sanktionen verknüpft ist. Erfolg kann hier etwa bedeuten, dass die Menschen längerfristig und in bessere Jobs vermittelt werden als von einer Kurzzeitmaßnahme in die nächste, dass sie gesünder sind, sich wohler fühlen oder weniger oft obdachlos werden. Dafür bräuchte es ein wissenschaftlich begleitetes Design einer Langzeituntersuchung von drei bis fünf Jahren. Danach könnte man wirklich evidenzbasiert die vermeintliche umfassende Wirksamkeit der Sanktionspraxis anhand einer ausgewogenen Kosten-Nutzen-Analyse empirisch bewerten. Der Wissenschaftliche Dienst hat bereits in einem Rechtsgutachten auch festgestellt, dass solche Experimente in Deutschland rechtlich möglich wären.

An Silvester läuft nach zwei Jahren das Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen in Finnland aus. Die Teilnehmer sind zufrieden – zur Blaupause taugen ihre Erfahrungen dennoch nur bedingt.
von Kristina Antonia Schäfer

Möglich vielleicht, aber auch schwierig umzusetzen. In Finnland ist an Silvester ein vielbeachtetes Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen ausgelaufen. Die verantwortlichen Forscher fürchten jedoch, dass es keine verlässlichen Ergebnisse liefern könnte.
Wir wissen schlicht nicht, ob und wie Menschen ihr Verhalten ändern, wenn Sanktionen wegfallen. Auch vom finnischen Experiment gibt es ja noch keine Ergebnisse. Wichtig wäre auf jeden Fall, dass ein Experiment nicht politisch für einen bereit vorab festgelegten Zweck instrumentalisiert wird, sondern dass „entscheidungsoffen“ eine Erprobung einer künftigen Reformoption erfolgt. Noch ist genug Zeit: Die Arbeitslosigkeit ist niedrig und da in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, könnte sie es vorerst auch bleiben. Diese Zeit sollte man für Experimente und Erprobung alternativer Regelungsmöglichkeiten nutzen.

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