Rechtsruck durch die AfD Die Angst vor der Radikalisierung auf dem Land

Die Kommunen warnen: Vergrößere sich die Kluft zwischen reichen und armen Regionen, drohe die weitere politische Radikalisierung.

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Die AfD war bei der Bundestagswahl im Osten Deutschlands besonders stark Quelle: dpa

Berlin „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ nennt das Grundgesetz als Staatsziel. Doch anstatt das Thema zur Chefsache zu erklären, schieben es Union und SPD auf die lange Bank.

Im Koalitionsvertrag ist zwar immer wieder von der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse die Rede. Doch wie das konkret gelingen soll, wissen die GroKo-Partner offenbar selbst nicht. Jedenfalls wollen sie, wie es im Vertrag heißt, zunächst eine Kommission einsetzen, die bis Mitte 2019 konkrete Vorschläge erarbeiten soll.

Dabei besteht schon heute dringender Handlungsbedarf. „Wir entfernen uns zunehmend von dem Auftrag des Grundgesetzes, der vorsieht, dass die Lebensverhältnisse in ganz Deutschland gleichwertig sein sollen“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, dem Handelsblatt. „Hier muss die Politik entschlossen gegensteuern, um dem Gefühl abgehängt zu sein entgegenzuwirken und Radikalisierungstendenzen wirksam zu bekämpfen.“

Dazu gehört aus Sicht Landsbergs das Bekenntnis, die sogenannte Daseinsvorsorge von der ärztlichen Versorgung über eine leistungsfähige Breitbandinfrastruktur bis zu einem funktionsfähigen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) flächendeckend zu gewährleisten. „Die neue Bundesregierung muss ein Aktionsprogramm zur Stärkung der ländlichen und abgehängten Regionen auflegen“, verlangte der Städtebundchef. „Behörden, aber auch Wirtschaftsstrukturen, müssen dort gestärkt werden.“

Landsberg konstatierte eine zunehmende Spreizung zwischen reichen und armen Kommunen und Regionen in Deutschland. „Diese Entwicklung steht vielerorts in direkter Beziehung zu den Auswirkungen des demografischen Wandels“, sagte er. Notwendig seien daher auch „Hoffnungssignale für die Menschen vor Ort, die ihnen vermitteln, dass sie nicht vergessen sind und dass man sich auch in der großen Politik um sie kümmert“. Landsberg mahnte, nicht allein Geld zu verteilen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, sodass die Stärken, die es in jeder Region gebe weiterentwickelt werden können. „Die Kommunen stehen bereit, ein solches Programm mitzutragen und auszugestalten.“

Die Analyse Landsbergs deckt sich mit Einschätzungen der Ostbeauftragten der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), die kürzlich auf das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen West- und Ostdeutschland aufmerksam gemacht hat. „Noch immer ist die Wirtschaftskraft im Osten viel niedriger als die im Westen“, sagte sie der „Mitteldeutschen Zeitung“ zum 5. Februar. An diesem Tag ist die Berliner Mauer genauso lange weg gewesen, wie sie da war: 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage.

Gleicke bringt den Unterschied zwischen Ost und West auf den Punkt. Ostdeutschland sei „ein großes, zusammenhängendes, strukturschwaches Gebiet, während es im Westen eher einzelne strukturschwache Inseln gibt“. Das Bruttoinlandsprodukt Ost verharrt auf dem Niveau von 73 Prozent des Westens, die Arbeitslosenquote war 2017 mit 8,4 Prozent höher als im Westen mit 5,8 Prozent. Die Produktivität liegt bei zwei Dritteln des Westniveaus, die Finanzkraft der Gemeinden hinkt hinterher. Noch immer wandern mehr Ostdeutsche nach Westdeutschland ab, als Westdeutsche in den Osten ziehen. „Es ist immer noch so, dass das West-Ost-Gefälle größer ist als das Süd-Nord-Gefälle“, sagt auch der Ökonom Oliver Holtemöller.

Auf die Folgen, die die teilweise schleppende wirtschaftliche Entwicklung in Teilen Ostdeutschlands haben kann, wies die Bundesregierung im vergangen Jahr in ihrem Bericht zum Stand der deutschen Einheit hin. „Gerade in den schwächsten Regionen, in denen sich Menschen abgehängt fühlen mögen, können gesellschaftliche Spaltungen bis hin zu radikalen Einstellungen entstehen.“

Bei der Bundestagswahl zeigte sich dies in einem deutlichen Rechtsruck im Osten. Die AfD schaffte seinerzeit mit 12,6 Prozentpunkten erstmals den Einzug ins Parlament. In den fünf ostdeutschen Flächenstaaten und Berlin-Ost stieg die Partei mit 21,9 Prozent zur zweitstärksten Kraft auf, während die SPD mit 13,9 Prozent auf Rang vier zurückfiel. In Sachsen ist die AfD sogar stärkste Kraft geworden, mancherorts mit Stimmenanteilen von knapp 50 Prozent.

Inzwischen erfährt die AfD offenbar weiteren Zulauf. Diese Woche hat sie jedenfalls einer Umfrage zufolge erstmals die SPD in der Wählergunst übertrumpft. Laut der Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der „Bild“ verbesserte sich die Partei um einen Punkt auf 16 Prozent, während die Sozialdemokraten einen Punkt verloren und nun bei 15,5 Prozent stehen. Die CDU lag in der Umfrage bei 32 Prozent. Die AfD fühlt sich vom SPD-Absturz beflügelt. „Unser nächstes Ziel ist jetzt die CDU“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, Bernd Baumann.

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