Nach dem Ärger um Maskenbeschaffung, Testkapazitäten und zu wenig Impfstoff wollte sich Jens Spahn (CDU) drei Dinge offensichtlich nicht noch einmal vorwerfen lassen müssen: zu langsam zu sein, zu knauserig, zu ahnungslos. Rund 400 Millionen Euro nahm Gesundheitsminister in die Hand, um im Januar 2021 ein vermeintliches „Wundermittel“ gegen schwere Coronaverläufe zu kaufen.
„Wundermittel“, so preist zumindest Ex-US-Präsident Donald Trump die Arznei des US-Herstellers Regeneron an. Die Therapie mit monoklonalen Antikörpern hatte ihn nach seiner Coronainfektion im Oktober 2020 innerhalb weniger Tage wieder auf die Beine gebracht, der Antikörper-Cocktail war damals noch gar nicht zugelassen – weckte aber quasi weltweit Begehrlichkeit angesichts von Trumps Behandlungserfolg und den neuen Infektionswellen.
190.000 Dosen der monoklonalen Antikörper bestellte Spahn bei den US-Firmen Regeneron und Eli Lilly, pro Dosis gab er damit also rund 2100 Euro aus. Die Medikamente würden „in Deutschland als erstem Land in der EU eingesetzt. Zunächst in Uni-Kliniken“, betonte Spahn damals. Doch wenige Monate später ist aus der Einkaufstrophäe ein Ladenhüter geworden.
Die Präparate drohen zu verfallen
Lediglich 3700 Dosen der Antikörper-Arzneien sind bisher in Deutschland von Ärztinnen und Ärzten verschrieben worden, teilt eine Sprecherin aus Spahns Haus mit. Womöglich wurden noch weniger tatsächlich verabreicht. Nun drohen die übrigen Präparate im Wert von insgesamt rund 392 Millionen Euro sogar zu verfallen, bereits im November laufen erste Chargen ab.
Dass die Mittel Staub ansetzen im Zentrallager des Bundes, liegt aber nicht etwa an zu wenig „Wunder“ im Mittel – sondern an der komplexen Anwendung. „Es gibt erhebliche logistische Probleme, die Antikörperpräparate im ambulanten Bereich einzusetzen“, sagte Stefan Kluge, Koordinator der Leitlinie „stationären Therapie von Patienten mit COVID-19“, Vorstandsmitglied der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
„Oftmals logistisch nicht möglich"
So würden die Präparate nur an Krankenhausapotheken geliefert, die ambulante Therapie müsse zudem intravenös erfolgen. „Dies ist bei den ansteckenden Patienten in der Arztpraxis oftmals logistisch nicht möglich. Aus diesen Gründen wurden die Antikörper bisher in Deutschland nur sehr zurückhaltend eingesetzt“, sagt Kluge.
Auch in Deutschland sind die Mittel mit der fachlichen Bezeichnung Bamlanivimab/Etesevimab und Casirivimab/Imdevimab noch nicht zugelassen, im Rahmen der Therapiefreiheit können Ärztinnen und Ärzte sie zwar einsetzen – aber dazu kommt es in der Praxis eben offensichtlich selten.
450 Euro gibt es pauschal pro Anwendung
Dabei werden die Mittel vom Bund sogar kostenfrei zur Verfügung gestellt. Selbst eine Sonderregelung wurde nach Ministeriumsangaben vereinbart, um „sicherzustellen, dass bei begrenzten Kapazitäten“ die Vergütung der Anwendung „für alle Patientinnen und Patienten einheitlich gestaltet wird“: 450 Euro gibt es pauschal pro Anwendung, unabhängig davon, ob die Behandlung ambulant oder stationär erfolgt ist. Fahrkosten und Aufwand der Krankenhausapotheken, etwa durch die Verteilung und die Lagerung der Arzneien, werden separat vergütet. Die genaue Kostenhöhe pro Behandlungsfall lässt sich laut Ministerium „nicht konkret“ beziffern.
Also auch am Geld scheitert es dieses Mal offensichtlich nicht. Aber wie es mit „Wundern“ eben manchmal so ist, aus Glanz wird schnell ein Grau. Intensivmediziner Kluge will zwar nicht direkt von einem Fehlkauf sprechen, sagt aber: „Grundsätzlich sollte ein Medikament erst eingesetzt werden, wenn es klare Empfehlungen dazu in Leitlinien gibt“. Offen bleibt damit, weshalb Spahn die Arzneien in so großen Mengen bestellt hat. Ob es quasi einen Mindestbestellwert gab, dazu machte die Ministeriumssprecherin keine Angaben.
„Das Wort Wundermittel ist unpassend“
Kluge verweist aber auf erste Studien, wonach die Gabe der Antikörper bei Risikopatienten in der ambulanten Frühphase einen schweren Coronaverlauf abwehren könne. Neue Studien würden auch Vorteile zeigen für Krankenhauspatienten mit einer ungenügenden Immunabwehr. „Das Wort Wundermittel ist aber natürlich unpassend“, sagt Kluge.
Miriam Stegemann, Oberärztin an der Berliner Charité und Mitglied der Fachgruppe Intensivmedizin, Infektiologie und Notfallmedizin (COVRIIN), die das Robert Koch-Institut in der Pandemie berät, weist noch auf weitere Herausforderungen mit den Antikörper-Arzneien hin. Wegen möglicher Nebenwirkungen sei die Gabe zunächst „mit einer Überwachungsmöglichkeit“ im Krankenhaus empfohlen worden. Aber nicht nur deshalb sei die Arznei im ambulanten Bereich „zu wenig eingesetzt“ worden. Zu unbekannt sei das Medikament, auch habe es „Qualitätsproblem in der ambulanten Versorgung“ gegeben. Deshalb habe die Charité eine Hotline zur Beratung und Beschleunigung der Anwendung eingerichtet. Doch als der Zugang erleichtert wurde und kein stationärer Aufenthalt mehr erforderlich war, seien die Infektionszahlen gesunken.
Wohin mit den mehr als 185.000 Dosen?
Wohin nun aber mit den mehr als 185.000 übrigen Dosen, von denen die ersten bereits in fünf Monaten ablaufen? Derzeit würde geprüft, die „Arzneimittel Patientinnen und Patienten im Ausland zur Verfügung zu stellen“, erklärt die Sprecherin des Ministeriums. 20.000 Dosen sind nach Angaben des Ressorts bereits nach Indien gespendet worden, auch aus Namibia soll es eine Anfrage geben.
Dazu müsse der Verlauf der Pandemie abgewartet werden. „Das Vorhalten einer Reserve an Arzneimitteln mit monoklonalen Antikörpern als zusätzliche Therapieoption ist danach weiterhin sinnvoll, auch vor dem Hintergrund, dass es Personengruppen gibt, die keinen Impfschutz erhalten können“, betont die Sprecherin.
Intensivmediziner Kluge stimmt zu – allerdings mit Anspielung: „Am Beispiel der Impfstoffbestellung kann man aber sehen, dass es im Rahmen einer Pandemie durchaus auch Sinn macht, vielversprechende Medikamente oder Impfstoffe frühzeitig einzukaufen.“
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