Reiner Klingholz „Aus dieser Bewegung kann mehr werden“

Eine Frau sitzt mit ihrem Laptop an einem Tisch auf einer Wiese. Quelle: imago images

In einigen entlegenen Landstrichen Ostdeutschlands setzen sich Städter dem Bevölkerungsschwund und der Überalterung entgegen. Mit digitalen Innovationen erfinden sie das Leben und Arbeiten auf dem Land neu.

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Reiner Klingholz ist geschäftsführender Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. In der Studie „Urbane Dörfer: Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann“ untersuchten die Forscher 18 gemeinschaftliche Projekte in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands. Hier haben Städter in einst leerstehenden Resthöfen oder unbewohnten Plattenbauten gemeinsam mit Gleichgesinnten ein neues Zuhause gefunden.

WirtschaftsWoche: Herr Klingholz, was ist ein urbanes Dorf? Klingt zunächst mal nach einem Widerspruch in sich.
Reiner Klingholz: In urbanen Dörfern leben ehemalige Städter, die einen Teil ihres Lebensstils mit aufs Land genommen haben. Viele sind digitale Nomaden, die mit ihren Laptops in Brandenburg genauso gut arbeiten können wie etwa in Berlin-Kreuzberg. In diesen Gemeinschaftswohnprojekten sind die Angebote von den Getränken in den Cafés bis zur Kinderbetreuung recht ähnlich wie etwa in Berliner Vierteln wie Prenzlauer Berg oder Friedrichshain.

Wie stark ist dieser Trend?
Wir haben für unsere Studie 18 Projekte rund um Berlin, aber auch im Großraum Dresden/Leipzig genauer untersucht, von denen einige aus über hundert Beteiligten bestehen. Das größte Projekt in Werder an der Havel hat den Vorteil, dass es Wohnungen für verschiedene Lebensphasen bietet: Da ist genug Platz, um auch mal einen Tausch zu organisieren, wenn etwa Kinder geboren werden oder ein Bewohner nach einer Trennung wieder wegzieht.

>Durchschnittlicher jährlicher Wanderungssaldo je 1000 Einwohner zwischen 18 und 24 Jahren, zwischen 2012 und 2017

Durchschnittlicher jährlicher Wanderungssaldo je 1000 Einwohner zwischen 25 und 29 Jahren, zwischen 2012 und 2017

Ziehen vor allem Digitalarbeiter aufs Land?
Nein, zusätzlich entstehen in den urbanen Dörfern auch Dienstleistungsarbeitsplätze, für Erzieher beispielsweise. Auch Handwerker machen in den Projekten eigene Gewerbe auf.

Ist die Entwicklung stark genug, um die Landflucht gerade in Ostdeutschland abzubremsen?
Nein, bei weitem nicht. Die von uns beschriebenen Dörfer liegen im Radius von etwa 150 Kilometern rund um Berlin und den anderen großen Städten. Die Bewohner weichen häufig wegen der steigenden Mieten aus. In Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt gibt es diesen Mietendruck nicht. Dort haben wir auch in den Städten noch alte Fabriken und Gewerberäume, in denen solche Projekte unterkommen können. Generell bedeutet Digitalisierung noch immer verstärke Landflucht und Verstädterung, denn in den Zentren entstehen die meisten Arbeitsplätze in der Branche – auch wegen der unzureichenden digitalen Infrastruktur in einigen abgelegenen Orten. Was wir jetzt beobachten ist eine zarte Gegenbewegung, aus der allerdings mehr werden kann.

Durchschnittlicher jährlicher Wanderungssaldo je 1000 Einwohner zwischen 30 und 49 Jahren, zwischen 2012 und 2017

Ist die digitalaffine Landkommune also oft nur eine Notlösung, weil das Geld sonst nicht reicht und die Städte zu voll sind?
Nein. Die Deutschen haben einen emotionalen Hang zum Land. In Umfragen sagen über sechzig Prozent der Befragten, dass sie lieber auf dem Land leben würden. In Wirklichkeit sitzen die meisten aber in Städten. Die neuen Landbewohner organisieren ihre Stadtflucht auf neue Weise: Sie finden sich schon in den Zentren in Gruppen online oder auf Veranstaltungen wie der re:publica zusammen, planen gemeinsam den Umzug und arbeiten dann oft auch in Coworking-Spaces zusammen. Sie bringen urbanes Leben aufs Land.

Besteht die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften aus den Städten – hier die polyglotten Akademiker in schicken Veganer-Cafes, dort die Sesshaften in Traditionskneipen mit viel Skepsis gegenüber Neuem – auf dem Land fortsetzt?
Eher nein. Die Bewohner der neuen Dörfer sind meist bemüht, sich einzubringen, unterstützen bestehende Vereine, machen ein Hoffest oder erleichtern durch ihren Zuzug, dass beispielsweise eine Grundschule mit wenig Kindern weiter betrieben werden kann.

Anteil der Haushalte mit einem Internetanschluss mit einer Datenübertragungsrate von mindestens 50 Megabit pro Sekunde, 2018, in Prozent

Sollte die Politik sich für urbane Dörfer interessieren?
Auf jeden Fall. Es gibt ja vielberechtigte Skepsis gegenüber der Subventionspolitik der vergangenen Jahrzehnte, gerade in Ostdeutschland. Es bringt sicher oft mehr, Initiativen zu stärken, die von den Bürgern selbst kommen.

Sie klingen so begeistert – verlagern Sie Ihr Institut jetzt auch aufs Land?
Nein. Ich glaube, die meisten Kollegen würden das nicht mitmachen. Aber ich habe selbst mal über zwanzig Jahre auf einem alten Hof in Schleswig-Holstein gelebt, obwohl mobiles Arbeiten damals noch schwerer war. Für uns als Familie mit kleinen Kindern war das perfekt.

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