Reisetagebuch Mit chinesischen Augen durch Deutschland

Der chinesische Unternehmer Huang Nubo besucht 38 deutsche Orte des UNESCO-Weltkulturerbes. Aus Lübeck und Stralsund, Köln und Regensburg berichtet er über Begegnungen mit einem Land, das wir zu kennen glaubten.

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Lübeck: Auf ein Bier

Lübeck hat bei mir folgenden Eindruck hinterlassen: Alles, was der Erhaltung würdig ist, wird erhalten, und alles, was der Nutzung würdig ist, wird genutzt. Erst beim Anblick der Touristen, die vor dem Weltkulturerbe umherschlendern, realisiert man, dass die nachhaltige Nutzung der Gebäude die beste Methode ist, ein Welterbe am Leben zu erhalten.

Am interessantesten allerdings fand ich meine Unterhaltung mit ein paar Punks. Ein wenig verwundert war ich über ihre Frisuren – die sind ja immer noch die gleichen wie vor zehn Jahren! Ich fragte einen von ihnen, was er von dem Kulturerbe in seinem Rücken halte. Daraufhin er: „Was hab ich damit zu tun?“ Ich fand das sehr amüsant, denn das ist ja schließlich auch eine Einstellung gegenüber dem Weltkulturerbe. Anscheinend kümmern sich diese Menschen weder um die Vergangenheit noch um die Gegenwart. Da frage ich mich: „Wer ist denn jetzt eigentlich freier?“ Ich würde mich für diese Art von Freiheit niemals auf ein Leben auf der Straße einlassen. Aber streben wir nicht alle innerlich nach Freiheit? Wer lässt sich schon gern formen?

Das Buch

Und auf einen weiteren Aspekt kommen wir hier wieder zurück – schließlich befinden wir uns in der Heimat Heideggers. Dieser äußerte einmal die pessimistischen Worte: „Wir sind alle Menschen ohne Heimat, in die wir zurückkehren können. Dies ist das Schicksal der Welt.“ In diesem Sinne habe ich noch einmal darüber nachgedacht. Wir haben ja, genau wie die jungen Punks, eigentlich auch kein Ziel, auf das wir uns zubewegen.

Und warum? Weil wir auch nicht wissen, an was wir glauben oder wo unser Geist zu Hause ist. Eine Gesellschaft ohne Glauben, ein Volk ohne Geist besteht aus Menschen, die ohne Heimat durchs Leben ziehen. Aber diese Gedanken gelten auch nur für die heutige Welt. Ich mache einen Schritt zurück und denke an die Menschen, die damals hier in den Gebäuden gelebt haben. Besaßen die nicht einen Glauben? Wie zum Beispiel den Glauben an Gott oder den Glauben an das Leben? Wer war dann eigentlich glücklicher?

Meiner Ansicht nach hat das Weltkulturerbe eine Aufgabe. Es markiert die Existenz einer Gesellschaft, die niemals wieder in ihrer ursprünglichen Form zurückkehren wird. Aber da ihre Spuren hier erhalten sind, bleibt sie in der Welt, und das unverändert bis in alle Ewigkeit. Unsere moderne Gesellschaft dagegen, um es mit Baudelaires Worten auszudrücken, ist flüchtig und unterliegt zahlreichen Veränderungen, und diese geschehen in einer Geschwindigkeit, die wir nicht mehr erfassen können. Dies ist der moderne Keim der Angst. Faszinierend finde ich, wie die heutige, von Angst geprägte Bevölkerung ihre Vergangenheit begreift. Eine Vergangenheit, erfüllt von Stabilität und Pracht. Eine Vergangenheit, die wegen ihrer Unwiederbringlichkeit ein Gefühl von melancholischer Schönheit in mir auslöst. Hier liegt das Spannungsverhältnis, das zwischen dem Weltkulturerbe und der heutigen Zeit besteht. Es ist ein Spannungsverhältnis, das viel Schönheit in sich birgt.

Stralsund: Bär und Fuchs lieben sich

Ich hätte mir niemals träumen lassen, welche Schönheit mich nach meiner Ankunft hier erwartet: sehr viele alte Bauwerke, die alle Mauer für Mauer, Stein für Stein noch genau den gleichen Anblick wie früher bieten. Die Neubauten wurden fein säuberlich eingefügt in das verschachtelte Stadtbild – ganz im Gegensatz zu unseren „auf alt gemachten“ Gebäuden. Wir überquerten die Straße und kamen auf einen Platz, der mich schlagartig in seinen Bann zog: eine alte Kirche, Glocken, Mauern. Besonders groß ist der Platz nicht – aber er löste in mir das Gefühl aus, als ob ich mich plötzlich ein paar Jahrhunderte zurück bewegt hätte. Für das Wochenende wird gerade ein Musikfest vorbereitet, Touristen und Einheimische sind zahlreich erschienen.

von Bert Losse, Konrad Fischer, Marc Etzold

Wir setzten uns in eines der Restaurants mit besonders traditionellem Flair und bestellten einen trockenen Riesling, dazu ein Gericht aus drei verschiedenen Fischsorten. Dabei entdeckte ich etwas Lustiges: Ein Kellner des Restaurants kam auf uns zu, ein gut aussehender junger Mann mit einem Tattoo auf dem rechten Arm. Das Tattoo zeigte in Standardschrift, kursiv, chinesische Schriftzeichen. Ich las: „Der treue Bär liebt den Fuchs.“ Ich fühlte mich sofort verbunden und fragte ihn, was das bedeutet. Er antwortete, er sei mit seiner Frau jetzt 15 Jahre verheiratet und liebe sie sehr. Jeder sagt, er selbst sehe aus wie ein Bär und seine Frau sei sehr klug, so wie ein Fuchs. Darum hat er sich diese Zeichen tätowieren lassen – aus Liebe zu seiner Frau. „Warum hast du dir das in chinesischen Zeichen stechen lassen?“ Er grinste: „Sieht doch schick aus!“ – und verschwand wieder.

Da musste ich zustimmen, ich fand es sehr cool, und so etwas liegt eindeutig im Trend. Hier von meinem Platz, unter dem unvergesslichen mittelalterlichen Kulturdenkmal, wünsche ich Fuchs und Bär jedenfalls ein Leben voller Liebe. Ich nehme von diesem Marktplatz folgende Eindrücke mit: Die Kulturstätten sind nicht losgelöst von den Menschen zu betrachten. Wir kommen meist an Kulturdenkmälern vorbei, düster und menschenleer, oder an ehemaligen Wohnhäusern von berühmten Persönlichkeiten. Tolle Gebäude, ohne Zweifel, aber in denen steckt leider nicht ein einziger Funken Leben. Im Gegensatz dazu dieser Platz hier, voller Menschen, die scheinbar niemals von der Seite der Bauwerke gewichen sind. Ich denke, wenn die Bauwerke es hier geschafft haben, einen so guten Einfluss auf die Menschen auszuüben, dann ist es wahrscheinlich, dass dies auch in Zukunft an die nächste Generation weitervererbt wird.

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