Rente und Gesundheit SPD punktet mit teurer Sozialpolitik

Die SPD will die Renten stabil halten, und die Arbeitgeber sollen sich wieder zur Hälfte an den Kassenbeiträgen beteiligen. Das sind gewichtige Erfolge für die Sozialdemokraten – doch die Maßnahmen werden sehr teuer.

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Die vereinbarte Rentenpolitik trägt ihre Handschrift: Die frühere Arbeitsministerin und heutige SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. Quelle: picture alliance / Kay Nietfeld/

Berlin Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die 2004 auf die Idee kam, die Wirtschaft bei den Lohnzusatzkosten zu entlasten. Sie führte einen allein von den Versicherten zu zahlenden Zusatzbeitrag von 0,9 Prozentpunkten in der gesetzlichen Krankenversicherung ein. Dieser Zusatzbeitrag wurde von nachfolgenden Koalitionen teils ausgebaut, teils modifiziert. So konnten die Krankenkassen bis 2015 zusätzlich zu den 0,9 Prozent einen weiteren Zusatzbeitrag von ihren Versicherten verlangen, wenn sie mit den Geldzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskamen.

Seit 2015, so hat es die letzte Große Koalition entschieden, teilen sich Arbeitgeber und Versicherte nur noch den gesetzlichen Krankenkassenbeitrag von 14,6 Prozent. Und der blieb eingefroren. Jede Kasse darf daneben selbst entscheiden, wie viel Geld sie zusätzlich von ihren Versicherten als Zusatzbeitrag verlangt. 2015 waren das im Durchschnitt 0,83 Prozent, also etwas weniger als die 2004 von Rot-Grün eingeführten fixen 0,9 Prozent. In den Jahren 2016 und 2017 waren es etwas weniger als 1,1 Prozent. Für das laufende Jahr hat das Bundesgesundheitsministerium einen durchschnittlichen Zusatzbeitrag von einem Prozent prognostiziert.

Das alles dürfte nun der Vergangenheit angehören. Denn Union und SPD haben sich in den Sondierungsverhandlungen verständigt, dass Arbeitgeber und Versicherte die gesetzliche Krankenversicherung wieder paritätisch – also zu je 50 Prozent – finanzieren. Unklar blieb lediglich, wie das konkret umgesetzt wird.

Denkbar wäre, dass der von den Krankenkassen festzusetzende Zusatzbeitrag, der ohnehin über den Arbeitgeber vom Lohn einbehalten werden muss, künftig zur Hälfte auch vom Unternehmen zusätzlich zum Lohn getragen werden muss. Dies bedeutet eine spürbare Erhöhung der Lohnzusatzkosten für die Unternehmen, aber auch für die Rentenversicherung. Sie übernimmt nämlich bei gesetzlich versicherten Rentnern die Rolle des Arbeitgebers, indem sie bisher den Arbeitgeberbeitrag von 7,3 Prozent an den Gesundheitsfonds überweist.

Für die SPD ist das ein wichtiger Erfolg. Nicht nur die Gewerkschaften, auch die SPD-Basis hat sich nie mit der Preisgabe der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung abfinden können. Seit 2004 hat die Rückkehr zur Parität auf Parteitagen immer wieder eine zentrale Rolle gespielt.

Damals gab es allerdings gute Gründe für die Einführung des Zusatzbeitrags: In der gesetzlichen Krankenversicherung herrschte finanziell Ebbe. Es musste dringend frisches Geld her. Gleichzeitig lag die Arbeitslosenquote über zehn Prozent, Tendenz steigend. Daher wollte man die Unternehmen nicht zusätzlich belasten. Heute verfügen Krankenkassen und Gesundheitsfonds über Rücklagen in zweistelliger Milliarden-Höhe. Die Arbeitslosenrate bewegt sich Richtung Fünf-Prozentgrenze, nähert sich also dem Zustand der Vollbeschäftigung. Die Rahmenbedingungen für die Rückkehr zu Parität sind also günstig.

Das gilt allerdings auch für andere 2004 eingeführte Zusatzbelastungen der gesetzlich Krankenversicherten, die inzwischen nicht nur in der SPD bedauert werden. 2004 wurde auch eine Regelung eingeführt, nach der Arbeitnehmer auf ihre Zusatzrente aus einer Direktversicherung auch dann den doppelten Krankenkassenbeitrag zahlen müssen, wenn die Leistung bei Rentenbeginn in einer steuerfreien Kapitalsumme ausgezahlt wird. Der Eingriff erfolgte rückwirkend, galt also auch für vor 2004 geschlossene Versicherungsverträge. Hunderttausende sind davon betroffen.

Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den massiven Eingriff in geltende Verträge waren erfolglos. Karlsruhe wertete das Interesse des Staates an der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung höher als den Vertrauensschutz der Bürger. Heute würde das Gericht die Sache möglicherweise anders sehen, schließlich schwimmen die meisten Kassen derzeit im Geld.

Den Krankenkassen spült die Regelung derzeit jährlich rund zwei Milliarden Euro in die Kasse. Auf dieses Geld will der Spitzenverband der Krankenkassen nur ungern verzichten. Die Unterhändler von SPD und Union sind dem offenbar gefolgt. Erfolgreich war der Spitzenverband auch in anderer Sache. Gebetsmühlenartig hatte er schon bei den Jamaika-Verhandlungen darauf hingewiesen, dass der Bund deutlich zu geringe Krankenkassenbeiträge für Hartz-IV-Empfänger überweist. Deren Zahl ist in Folge der Flüchtlingswelle von 2015 zuletzt gestiegen. Es geht inzwischen um fast zehn Milliarden Euro, die den gesetzlichen Krankenkassen aus diesem Grund fehlen. Nun soll der Beitrag des Bundes schrittweise auf ein kostendeckendes Niveau angehoben werden.


Auch SPD-Erfolge bei der Rente

Auf ihrer Habenseite kann die SPD auch die meisten Vereinbarungen zur Rentenpolitik verbuchen. Hier zeichnet sich nach 2013 allerdings eine zweite unheilige Allianz von SPD und Union zu Lasten künftiger Beitragszahler ab. So konnte sich die SPD mit ihrer Forderung nach einer Stabilisierung des Niveaus der gesetzlichen Rente bei den heute erreichten 48 Prozent des Nettoeinkommens vor Steuern durchsetzen – und zwar bis 2025.

Das wird die Rentenversicherung zwar in dieser Legislaturperiode kein Geld kosten, da wegen der boomenden Wirtschaft auch nach geltendem Recht das Rentenniveau bis 2024 stabil bleiben wird. Aber die nun geschlossene Vereinbarung sieht ausdrücklich vor, dass die Sicherung des Rentenniveaus durch eine entsprechende Änderung der Rentenformel sichergestellt werden soll. Daraus ist aus derzeitiger Sicht nur ein Schluss möglich: Der Anfang des Jahrtausends in die Rentenformel eingefügte Nachhaltigkeitsfaktor soll verändert werden.

Er sieht vor, dass das Rentenniveau immer dann sinkt, wenn in einem Jahr die Zahl der Rentner stärker steigt als die der Arbeitnehmer. Immer dann sollen die Renten weniger stark steigen als die Löhne. Zuletzt hatte dieser Faktor wegen des starken Anstiegs der Beschäftigung allerdings rentensteigernd gewirkt. Die Renten stiegen wegen des Faktors also sogar geringfügig stärke als die Löhne. Derzeit liegt es knapp über 48 Prozent. 2015 hatte es noch bei 47,7 Prozent gelegen. Die Änderung der Rentenformel soll noch in diesem Jahr erfolgen. Das bedeutet, dass es in jedem Fall nach 2024 Zusatzbelastungen für die Rentenversicherung geben wird.

Erst danach soll eine Rentenkommission eingesetzt werden. Sie soll dann „Empfehlungen für einen verlässlichen Generationenvertrag“ vorlegen. In der Sondierungsvereinbarung heißt es dazu, Ziel sei es, eine doppelte Haltelinie einzuziehen für die langfristige Höhe des Rentenniveaus und des Rentenbeitragssatzes. Das erinnert sehr stark an das Rentenkonzept von Ex-Arbeitsministerin Andrea Nahles. Danach würden die Kosten einer Begrenzung des Beitragssatzes über einen steuerfinanzierten Demografie-Fonds finanziert werden. Dazu schweigen sich die Unterhändler in ihrem Schlussdokument allerdings aus. Auf jeden Fall müssen auf lange Sicht hohe Milliardenbeträge zusätzlich aufgebracht werden – um das Ziel eines stabilen Rentenniveaus zu erreichen,

Nahles Handschrift trägt auch das beschlossene Konzept für eine Solidarrente für langjährig Versicherte. Es sieht vor, dass Arbeitnehmer, die mindestens 35 Jahre an Beitragszeiten oder Zeiten der Kindererziehung oder Pflege aufweisen, ein regelmäßiges Alterseinkommen garantiert wird. Das soll zehn Prozent oberhalb der regionalen Grundsicherung liegen. Die Mindestrente wird also in München und Hamburg höher sein als in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern, wo die Lebenshaltungskosten deutlich niedriger sind.

Anspruch haben nur Rentner, die keine anderen Einkünfte haben, also bedürftig sind. Bei der Prüfung sollen eine selbst genutzte Eigentumswohnung oder ein Haus ausdrücklich nicht berücksichtigt werden. Auszahlen soll die Solidarrente die Rentenversicherung. Sie soll dabei allerdings mit den Grundsicherungsämtern zusammenarbeiten. Daraus lässt sich schließen, dass die Solidarrente als bessere Grundsicherung für langjährig Versicherte aus Steuern finanziert wird – wie Hartz IV. Doch auch zu dieser Frage schweigen sich Union und SPD in ihrem Einigungspapier aus.

Punkten konnte die SPD auch bei zwei weiteren Rententhemen: Erstens der Verbesserung der Lage von Arbeitnehmern, die aus Gesundheitsgründen vorzeitig in Rente gehen müssen und zweitens bei einer besseren Absicherung der Selbstständigen. Die Rente der Frührentner aus gesundheitlichen Gründen soll in Zukunft so berechnet werden, als hätten sie bis zum Alter von 65 Jahren und acht Monaten weiter gearbeitet. Danach wird die Zurechnungszeit jedes Jahr um einen weiteren Monat eingehoben bis das Rentenalter 67 erreicht ist. Derzeit wird die Rente so berechnet, als hätten die von Erwerbsminderung Betroffenen nur bis zum Alter von 62 Jahren und drei Monaten gearbeitet.

Beim Thema Versicherungspflicht für Selbstständige kann die SPD immerhin einen halben Erfolg vermelden. Ziel der SPD war es, dafür zu sorgen, dass künftig Selbstständige, die keine andere Form der Absicherung nachweisen können, automatisch versicherungspflichtig in der Rentenversicherung werden. Der nun gefundene Kompromiss sieht zwar vor, dass sie im Prinzip auch eine andere Form der privaten Vorsorge wählen können. Allerdings gilt eine Opt-out-Regelung. Wer nicht versichert ist, ist danach zunächst automatisch gesetzlich rentenversichert und muss entsprechende Beiträge abführen – es sei denn er widerspricht und weist anschließend einen vergleichbaren privaten Versicherungsschutz nach.

Bei so viel Erfolgen beim für die SPD besonders sensiblen Thema soziale Sicherung war eigentlich absehbar, dass die Sozialdemokraten auch Kröten schlucken müssen: SPD und große Teile der CDU waren von Anfang an dagegen, neue Rentengeschenke auszuteilen, die nur einer Minderheit von Rentnern zu Gute kommen. Allein die CSU bestritt schon ihren Bundestagswahlkampf mit dem Versprechen, dass die Mütterrente weiter ausgebaut wird. Sie hat sich nun erneut durchgesetzt. 2013 wurde entschieden, Müttern für jedes vor 1992 geborene Kind statt einem zwei Babyjahre auf ihrem Rentenkonto gut zu schreiben. Nun sollen es drei Babyjahre werden. Damit werde eine Gerechtigkeitslücke geschlossen, heißt es dazu im Einigungspapier, weil Mütter mit nach 1992 geborenen Kindern ja schon seit 1992 drei Babyjahre gut geschrieben werden.

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Die drei Babyjahre für Geburten ab 1992 wurden seinerzeit vor allem eingeführt, um diesen Müttern einen Ausgleich dafür zu geben, dass gleichzeitig die Regelungen zur Rente nach Mindesteinkommen abgeschafft wurden. Danach werden Rentenansprüche für Zeiten mit geringen Einkünften so aufgestockt, als hätten die Versicherten mindestens 75 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient. Diese Regelung gilt für Beitragszeiten bis 1992 immer noch. Viele Rentnerinnen, die wegen der Kindererziehung beruflich kürzer treten mussten, haben davon durch eine höhere Rente profitiert.

Sie sollen nun über den Ausbau der Mütterrente eine erneute Rentenerhöhung erhalten. Immerhin gibt es das dritte Babyjahr nur für Mütter, die mehr als drei Kinder geboren haben. Was daran gerecht ist, erschließt sich nicht so leicht. Nicht erschließbar aus dem Einigungspapier ist auch, wer das Wahlgeschenk in Höhe von sieben Milliarden Euro an die Mütter bezahlen soll. Hierüber schweigen sich die Unterhändler aus. Es ist zu befürchten, dass die Beitragszahler zur Rentenversicherung belastet werden sollen, da im Bundeshaushalt angesichts anderer Vereinbarungen – etwa zur Steuer- und Bildungspolitik – das Geld fehlen dürfte.

Damals waren es die von der SPD geforderte abschlagfreie Rente ab 63 für Versicherte mit mehr als 45 Versicherungsjahren und die erste Stufe der Mütterrente, die seither die Rentenkasse mit zehn Milliarden Euro im Jahr belasten. Nun wird ein ungedeckter Scheck ausgestellt für eine langfristige Stabilisierung des Rentenniveaus, die in einigen Jahren zweistellige Milliardenbeträge zusätzlich kosten dürfte – hinzu kommt noch der Ausbau der Mütterrente. Es ist die gleiche Prozedur wie bei der vorherigen Großen Koalition.

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