Zwei Stunden sprachen die Spitzen der großen Koalition am vergangenen Dienstagabend im Kanzleramt allein über die Rente − von Ost-West-Angleichung und Erwerbsminderungsrente (sehr wahrscheinlich) über Riester-Förderung und gesetzliche Haltelinien bis zur Mütterrente (in dieser Legislaturperiode eher unwahrscheinlich). Am Ende vertagte sich der Koalitionsausschuss auf den 24. November. Und Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) erklärte hoffnungsvoll, man sei einen „guten Schritt vorangekommen“.
Das Signal ist deutlich: Die große Koalition will noch in diesem Jahr ein großes Rentenpaket schnüren und vermeiden, dass Panikmacher (auch aus den eigenen Reihen) im nächsten Jahr mit Horrorszenarien einer drohenden massenhaften Verarmung im Alter in den Bundestagswahlkampf ziehen.
Klar erscheint nach dem Koalitionsgipfel, dass die Ost-West-Rentenangleichung nach langem Fingerhakeln zwischen Arbeitsministerium und Kanzleramt bald beschlossen wird. Am Dienstag ging es hauptsächlich noch um eine Frage: Ob die niedrigeren ostdeutschen Rentenansprüche (derzeit 94,1 Prozent des Westwertes) zeitlich früher angepasst werden könnten, als die Hochwertung von Ostlöhnen abgeschmolzen würde. Letzteres bereitet insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel Bauchweh, da dies im Osten auf wenig Gegenliebe stößt. Denn noch profitieren Arbeitnehmer im Osten unterm Strich. In den nächsten Tagen sollen Nahles und ihr Finanzkollege Wolfgang Schäuble (CDU) durchrechnen, was eine solche versetzte Anpassung zusätzlich kosten würde.
Altersvorsorge: So viel Rente darf der Standardrentner erwarten
Die Prognosen beziehen sich auf den sogenannten Standardrentner, der 45 Jahre Beiträge gezahlt und immer das Durchschnittseinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verdient hat. Die angegebene Bruttostandardrente versteht sich vor Steuern. Das Sicherungsniveau vor Steuern gibt das Verhältnis der Renten im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der beitragszahlenden Beschäftigten abzüglich der durchschnittlichen Sozialversicherungsbeiträge an.
Quelle: Rentenversicherungsbericht 2015, Deutsche Rentenversicherung Bund, Stand: November 2015
Beitragssatz zur GRV: 19,9 %
Bruttostandardrente: 1224 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 51,6 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1372 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,7 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1517 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,6 %
Beitragssatz zur GRV: 20,4 %
Bruttostandardrente: 1680 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 46,0 %
Beitragssatz zur GRV: 21,5 %
Bruttostandardrente: 1824 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 44,6 %
Reformwillig zeigte sich die Runde der schwarz-roten Spitzenpolitiker auch bei der Erwerbsminderungsrente. Nachdem die dazugehörigen Anrechnungszeiten für Invalide 2014 bereits von 60 auf 62 Jahre abgehoben worden sind, ging es am Dienstag nicht nur um eine Aufstockung auf 63, sondern möglicherweise auch auf 65 Jahre. Auch hier sollen die Experten in den nächsten Tagen ein genaues Kostentableau aufstellen.
Mehr Klärungsbedarf gibt es hingegen bei der Unterstützung von Geringverdienern. Keine Chance hatte die auch bei Nahles ungeliebte Lebensleistungsrente, die einst von ihrer Vorvorgängerin Ursula von der Leyen (CDU) ins Spiel gebracht worden war. Aber auch Nahles’ eigener Vorschlag einer Aufstockung mit Prüfung der Einkommensverhältnisse auch des Lebenspartners stieß in der Runde auf Skepsis. „Da ist noch viel Arbeit nötig“, sagt ein Teilnehmer.
Die Vorsorge stärken
Bereits beschlossene Sache ist indes, bei betrieblicher Vorsorge und der Riester-Rente für Geringverdiener nachzujustieren. Aber auch Normalverdiener dürfen auf eine Anhebung der Fördergrenzen hoffen. Schäuble hatte dies schon während der Haushaltsdebatte im Bundestag angedeutet: „Was ich heute am ehesten für vernünftig halte, ist eine Stärkung der individuellen Vorsorge.“ Und fügte hinzu: „Die Riester-Rente ist gut, und es lohnt sich, daran zu arbeiten, sie weiter zu verbessern.“ Der Arbeitsauftrag gilt zuallererst natürlich für Schäuble selbst. Er muss das nötige Geld für eine bessere Riester-Förderung lockermachen. Dringend nötig ist es ohnehin, da die Förderbedingungen seit 15 Jahren kaum an die Lohnentwicklung angepasst wurden. Würde die große Koalition die damals eingeführte Förderzielmarke von vier Prozent des versicherungspflichtigen Einkommens dynamisch an die Lohnentwicklung anpassen, müsste die Grenze von 2100 Euro auf 3048 Euro angehoben werden, sagt Peter Schwark vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV).
Die Liebe zu Riester ist beim Finanzminister reines Kalkül. Über vergleichsweise überschaubare Steueranreize und Geldzuschüsse kann er beachtliche Vorsorgeanstrengungen stimulieren. Bei der gesetzlichen Rente hingegen schlüge jede Stabilisierung der Rentenansprüche gleich voll ins Kontor: Ein Prozentpunkt kostet um die 6,5 Milliarden Euro, im Zweifel aus der Bundeskasse zu zahlen. Profitieren würden davon aber nicht nur die Hilfsbedürftigen, sondern alle, auch die Besserverdiener.
Keine massenhafte Verarmung
Kaum noch eine Chance hat nach der jüngsten Koalitionsrunde hingegen die von CSU-Chef Seehofer geforderte Ausweitung der Mütterrente. Während die Christsozialen, neben Seehofer war die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt dabei, auf Gerechtigkeit für Mütter von vor 1992 geborenen Kindern pochten, äußerten die CDU- und SPD-Vertreter Zweifel an der Finanzierbarkeit. Rund 6,7 Milliarden Euro pro Jahr soll die Erweiterung kosten. Damit scheint klar: Die Mütterrente wird ein Projekt für die nächste Legislaturperiode. Und den CSU-Wahlkampf.
Recht entspannt sprachen die Teilnehmer an Merkels Tafelrunde schließlich über Grundsätzliches zur tragenden Rentensäule, der gesetzlichen Alterssicherung. Diese ist in deutlich besserer Verfassung als erwartet, gab Nahles bekannt und nahm damit ein Ergebnis ihres neuesten Rentenberichts vorweg, der Ende des Monats veröffentlicht wird. Das Rentenniveau wird in diesem Jahr, so die Ministerin, dank einer Rekordanhebung der Rente im Osten und Westen sogar leicht steigen, und zwar um 0,2 Punkte auf 48 Prozent des Durchschnittseinkommens. Diese Vorlage wirkt auch in der Zukunft noch wohltuend nach: Im Jahr 2030 soll das Rentenniveau laut der neuesten Prognose fast einen halben Prozentpunkt höher ausfallen als bisher gedacht; mit dann 44,5 Prozent würde die gesetzlich vorgegebene untere Haltelinie von 43,0 Prozent also beträchtlich überschritten.
Akuter Handlungsbedarf oder gar teurer Populismus, wie ihn Horst Seehofer und Sigmar Gabriel noch im Frühjahr betrieben, ist weder nötig noch angebracht, lautet Nahles’ Botschaft. Da befindet sich die Genossin in guter Gesellschaft mit Franz Müntefering, einst Bundesarbeitsminister und Urheber der vergangenen großen Rentenreformen. Dieser mahnt zur Ruhe: „Die gesetzliche Rente verträgt keine Kurzatmigkeit und kein Hin und Her. Verlässlichkeit ist Pflicht.“ Der frühere SPD-Parteichef ermutigt gleichwohl die Regierung, noch vor der Wahl 2017 die wichtigsten Fragen gemeinsam zu klären. „Die große Koalition ist gut beraten, im Konsens Haltelinien für die Jahre bis 2045 einzuziehen und so Sicherheit zu geben.“
Das Niveau steigt
Würde die Regierung ihrem eigenen Alterssicherungsbericht 2016 folgen, wäre die Diskussion um die Rente schnell beendet. Denn dort rechnen die Fachleute aus Nahles’ Ministerium an sechs Modellfällen detailliert durch, was jene erwarten können, die nicht nur eine Rente beziehen, sondern darüber hinaus privat vorsorgen: kein sinkendes, sondern ein stabiles oder sogar steigendes Gesamtversorgungsniveau. Mit anderen Worten: Das langfristig nach unten zeigende gesetzliche Rentenniveau, um das sich ein Großteil der Alarm-Debatte dreht, ist nur ein täuschender Ausschnitt der Wahrheit.
Bei allen Einwänden gegen die Modellrechnungen: Selbst diese Zahlen dürften noch zu niedrig angesetzt sein, da darin zwar das Riester-Sparen und weitere private Vorsorge enthalten sind, aber gerade letztere kaum im real existierenden Umfang. „Neben der Riester-Rente gibt es allein noch rund 30 Millionen weitere private oder betriebliche Rentenverträge“, sagt GDV-Mann Peter Schwark, „mit einer durchschnittlich versicherten Monatsrente von ungefähr 175 Euro.“ Für Rentner mit Lebensversicherungen erhöhe sich das Altersversorgungsniveau damit im Schnitt um weitere gut zehn Prozentpunkte.
Den deutschen Rentnern insgesamt droht keinesfalls eine massenhafte Verarmung, lautet die vielleicht wichtigste Erkenntnis im Herbst 2016.