Rettung des Rechtsstaats Die neue Härte der Politik

Bund und Länder wollen nach den Übergriffen in Köln den Rechtsstaat reparieren. Die Regierung will jetzt mit Härte punkten. Was zumutbar ist, wird neu definiert.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Nach Übergriffen in Köln will die Regierung jetzt mit Härte punkten. Quelle: dpa Picture-Alliance

Von Max Härder, Marc Etzold, Konrad Fischer, Bert Losse, Christian Ramthun, Gregor Peter Schmitz und Cordula Tutt.

Volker Kauder, Fraktionschef der CDU/CSU, ist gelernter Jurist. Aber so lange liegt sein Studium zurück, dass der Christdemokrat kokettiert, keine juristischen Fachdiskussionen mehr führen zu können. Derzeit bleiben Kauder diese aber nicht erspart, bei so gut wie jedem Fraktionstreffen tragen besorgte Unionsabgeordnete vor, wie sehr der Flüchtlingsstrom den Rechtsstaat bedrohe.

Vorigen Dienstag, in der ersten Sitzung nach der verstörenden Silvesternacht von Köln, zitierten gleich mehrere aus einem Interview des „Handelsblatts“ mit dem Expräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier. „Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit“, lasen die Abgeordneten einen Papier-Satz vor und zitierten den Juristen weiter: „Das ist auf Dauer inakzeptabel.“

Hintergründe zu den Übergriffen in Köln

Recht sei doch auch immer politisches Recht, also Auslegungssache, lautet Kauders etwas hilflose Replik in der Regel. Recht hat er mit diesem Satz allerdings insofern, als auch Regierungsmitglieder gerade versuchen, mit Recht Politik zu machen. Zurückhaltung ist spätestens seit Köln keine politische Option mehr – und Parteigrenzen scheint es auch nicht länger zu geben. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD) kündigten einmütig an, die Hürden zur Ausweisung krimineller Ausländer zu senken. Das ist aber nur der Anfang. Deutschland muss sich auf eine ganz neue Härte in der Flüchtlingsdebatte einstellen:

Bereits kommende Woche könnte das Bundeskabinett Regeln verabschieden, nach denen anerkannte Asylbewerber künftig ihren Wohnort nicht mehr frei wählen können. Bislang gilt das nur für Asylbewerber. Damit soll verhindert werden, dass große Flüchtlingsgruppen weiterhin dorthin ziehen, wo bereits Landsleute leben.

Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Saarlands Ressortchef Klaus Bouillon (CDU), argumentiert: „In vielen Großstädten ist schon jetzt alles knapp.“ Vor allem fehle es an geeignetem Wohnraum. Noch mehr Zuzug überfordere alle, er führe möglicherweise zu „Chaos für die Einheimischen und Obdachlosigkeit für die Flüchtlinge“, so Bouillon.

In welche Landkreise die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien ziehen

Als Vorbild zum Gegensteuern könnte der Wohnortzwang dienen, der in den Neunzigerjahren für Hunderttausende Spätaussiedler aus den Exsowjetrepubliken galt. Damals bestimmte der Staat per Zuweisungsgesetz, dass die Neulinge zwei bis drei Jahre an einen Ort gebunden seien. Bouillon mahnt zur Eile, Flüchtlinge müssten Einschränkungen hinnehmen. „Sonst klappen die Ballungsräume zusammen, und es bilden sich womöglich an manchen Orten Ghettos.“

Die Bundesagentur für Arbeit registriert, dass es anerkannte Asylbewerber in wenige Zentren zieht statt in Schrumpfregionen und Kleinstädte, in denen es oft mehr Arbeitsplätze als Bewerber gebe. Afghanen sammeln sich eher in Hamburg. Syrer treffen sich vorrangig in NRW und im Saarland. Pakistanis steuern häufig das Rhein-Main-Gebiet an (siehe Grafik).

Der geplante Flüchtlingsausweis soll diese Kräfte bremsen. Name, Geburtsort, Fingerabdruck sind darin vermerkt – ebenso wie die zuständige Kommune. „Geld gibt es nur für die, die am eingetragenen Ort bleiben. Das müssen die Flüchtlinge akzeptieren“, skizziert Bouillon.

Zwei Millionen Überstunden, 14 Stunden Dienst am Stück

Seit die Bundespolizei auch die deutsch-österreichische Grenze bewachen muss, kommt sie mit der Arbeit gar nicht mehr hinterher. 14 Stunden am Stück waren die Polizisten im Dienst, in der Spitze waren rund 2000 Beamten eingesetzt, sie haben mittlerweile rund zwei Millionen Überstunden angehäuft. Von Grenzsicherung könne aber keine Rede sein, klagen sie, es gehe fast ausschließlich um die Registrierung und Betreuung von Flüchtlingen.

„Wir sind eine Art Busunternehmen für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“, kritisiert Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Dafür hinterlassen wir an den Bahnhöfen Sicherheitslücken.“ Nach Informationen der GdP stehen die 27 Hundertschaften Bereitschaftspolizei des Bundes nur noch auf dem Papier. Bestenfalls seien sechs Hundertschaften jenseits der Grenze einsatzbereit, „Im Notfall kann der Bund die Länder kaum unterstützen“, sagt Radek.

Aufklärungsquoten von Straftaten sind in NRW-Städten besonders niedrig

Zwar will der Bundesinnenminister die Bundespolizei um 3000 Beamte aufstocken, doch das dürfte dauern. Erst im August 2019 sollen die ersten 1000 Polizisten ausgebildet sein, der Rest würde bis 2021 folgen. Zu langsam und zu wenig, findet Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft: „Um die öffentliche Sicherheit gewährleisten zu können, sind mindestens 20.000 zusätzliche Planstellen bei der Polizei nötig.“

Viele Länder haben aber bei der Polizei gespart, vor allem in Ostdeutschland. Jetzt diskutieren etwa Sachsen-Anhalt und Thüringen über einen Stopp der Verschlankung, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern haben bereits konkrete Schritte eingeleitet. Nachholbedarf in Sachen innere Sicherheit hat vor allem NRW, wo die Großstädte bei der Aufklärung von Straftaten besonders schlecht abschneiden (siehe Tabelle). Hessen hat den geplanten Stellenabbau bei der Polizei vorerst abgeblasen.

In diesen Städten wird am meisten geklaut

Nur Baden-Württemberg hält bislang an seiner Polizeireform fest, bei der aus insgesamt 41 Polizeidirektionen zwölf Großpräsidien werden. Auch diese Reform verfolgt aber ein klares Ziel: Am Ende soll es mehr Polizisten auf den Straßen geben, nicht weniger.

Im September 2015 verzeichnete die Asyl-Datenbank Easy genau 1251 Algerier, die in Deutschland Zuflucht suchten. Im Dezember waren es bereits 2296. Noch drastischer war die Entwicklung bei Marokkanern: Aus rund 700 Registrierten im Herbst wurden im Dezember fast 2900. Er sähe diese Sprünge „mit Sorge“, erklärte Innenminister de Maizière vorige Woche. Eine mögliche Reaktion formulierte er aber nicht.

Wenige Tage später nahm ihm die CSU bei ihrer Klausurtagung in Wildbad Kreuth diese Aufgabe ab: Marokko und Algerien sollten so schnell wie möglich zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden, um Asylantragsteller schnell wieder in die Heimat zurückschicken zu können, forderten die Christsozialen. Diese Strategie hat mit Ländern wie Albanien, Kosovo und Serbien gut funktioniert. Von dort kommen mittlerweile kaum noch Asylbewerber ins Land.

Die Bundesregierung operiert hinter den Problemen her

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) signalisierte in Kreuth Unterstützung. Jedoch blockt in diesem Punkt noch der Koalitionspartner: Rückführungsabkommen seien das bessere Mittel, argumentiert SPD-Generalsekretärin Katarina Barley. Abschiebungen scheitern ausgerechnet bei Marokkanern und Algeriern tatsächlich häufig daran, dass die staatlichen Stellen keine Passersatzpapiere ausstellen. Diese sind aber meist nötig, weil Originale oft von den Flüchtlingen vernichtet wurden.

Nur ein Beispiel, das zeigt, wie sehr die Bundesregierung von der Wirklichkeit getrieben wird – und wie sehr sie den Problemen hinterheroperiert. Welche Arbeit finden Flüchtlinge? Wie sollen Schulen und Kitas die gewaltige Last schultern? All diese entscheidenden Fragen drohen bereits wieder in den Hintergrund zu rücken.

Mit jedem Monat, in dem weitere 100.000 Flüchtlinge die deutsche Grenze passieren, verschiebt sich die Grenze des politisch Vertretbaren. Die Folge: Was vor Wochen noch undenkbar erschien, kann kurze Zeit später ein Akt der Vernunft sein.

Noch lehnt Merkel etwa vehement ab, was CDU-Innenpolitiker Armin Schuster vorschlägt. Der frühere Bundespolizist will möglichst viele Schengen-Staaten Grenzkontrollen einführen lassen, damit nur noch die reinkommen, die aufgrund besonderer humanitärer Gründe nicht zurückgewiesen werden können. „Wir können offene Grenzen in Europa nur retten, wenn wir sie jetzt für eine gewisse Zeit sichern“, sagt Schuster.

Merkel fürchtet aber dann einen „Kaskadeneffekt“, weil alle Länder sich abriegelten und selbst akut verfolgte Flüchtlinge keine Chance mehr hätten. Dann werde Europa erneut zur Festung. Es dauere Monate, die lange deutsche Grenze mit einem Zaun zu sichern – und in dieser Zeit kämen besonders viele Flüchtlinge.

Freilich kommen auch jetzt nach wie vor sehr viele. In den ersten elf Tagen dieses Jahres dokumentierte die Bundespolizei an der Grenze fast 2500 Flüchtlinge pro Tag, trotz Schnee und Eiseskälte. „Ich kann rechnen“, sagte Kanzlerin Merkel gerade vor CSU-Abgeordneten. „Das ist noch zu viel.“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%