Rita Süssmuth "Es ist unbestritten, dass wir ein Einwanderungsland sind"

Seite 2/2

Schwarze Null opfern, wenn es nicht anders geht

Angela Merkel gehörte vor 15 Jahren in der Frage eines Zuwanderungsgesetzes nicht gerade zu Ihren Fans. Haben Sie den Eindruck, dass sie diesmal ein Einwanderungsgesetz mittragen wird?

Davon gehe ich aus. Blicken sie allein auf das letzte Jahr. Deutschland hat in der Flüchtlingskrise unter Angela Merkel enorm viel geleistet. Beeindruckend ist vor allem, dass sich so viele Bürger ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren. Ich bin überzeugt, dass sie heute völlig anders zu dem Thema steht als vor 15 Jahren.

Der Bundesinnenminister spricht gerne davon, dass wir einfach lediglich ein besseres „Zuwanderer-Marketing“ brauchen. Im Klartext: Er will kein Einwanderungsgesetz.

Hier halte ich es mit unserem Generalsekretär Peter Tauber. Er hat gesagt, dass wir ein Einwanderungsgesetz brauchen, da nur derjenige in Deutschland eine Chance hat, der einen Arbeitsplatz vom Heimatland aus nachweisen kann. Wir brauchen kein Zuwanderungsmarketing, denn es geht nicht um Produktmarketing. Wir werben schließlich um Menschen, auf die wir angewiesen sind und die wissen müssen, was unsere Kultur und Werte sind. Das Wort Marketing ist fehl am Platz.

Wir müssen nicht stärker um qualifizierte Einwanderer werben?

Doch. Aber hier geht es um mehr als Ökonomie. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, in dem wir klären, wie Deutsche und Einwanderer zusammenleben und wie sich die unterschiedlichen Kulturen beeinflussen. Das hat doch nichts mit Marketing zu tun. Im Übrigen sendet dieser Begriff das falsche Signal an potentielle Einwanderer.

Inwiefern?

Studien der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen eindeutig: Menschen lernen am besten, wenn sie sich zugehörig fühlen. Also sollten wir ihnen auch das Gefühl geben, dass sie willkommen sind.

Vor der Bundestagswahl rechnet kaum noch jemand mit dem Gesetz. Zu wann ist es realistisch?

Wir sollten alles daran setzen, dass wir spätestens nach der Bundestagwahl 2017 rasch umsetzen können. Dafür müssen wir aber jetzt mit der Arbeit beginnen. Manches könnten wir auch sofort machen, beispielsweise die Wartezeiten für Flüchtlinge deutlich verkürzen, damit sie oft nicht erst nach 15 Monaten als Asylbewerber anerkannt werden und arbeiten können. Und wir sollten Geduldeten mit längerer Verweildauer die Chance geben, eine Ausbildung zu machen. Aber das Grundproblem, dass überwunden werden muss, ist doch der fehlende Konsens.

Vermischen Sie jetzt nicht die Themen Flüchtlinge und qualifizierte Zuwanderung?

Natürlich macht es einen Unterschied, ob jemand vor Krieg zu uns flieht oder ob er sich freiwillig entscheidet, zu uns zu kommen. Die strikte Unterscheidung ist in der Praxis aber nicht hilfreich. Beide Migrantengruppen hoffen hier auf ein existenzsicherndes mit Arbeit verbundenes  Leben. Deswegen müssen wir jetzt dringend in die Aus- und Weiterbildung von Flüchtlingen investieren.

Klingt so als würden Sie dafür im Zweifel die schwarze Null opfern wollen.

Ungern, wenn es nicht anders geht, ja. Es zahlt sich am Ende aus. Entweder arbeiten die Menschen hier und tragen ihren Teil über Steuern bei. Oder sie gehen irgendwann zurück und profitieren von ihren Erfahrungen in Deutschland. Das ist die beste Entwicklungshilfe, die es nur geben kann. Deutschland gewinnt also in jedem Fall.

Wenn die neue Kommission um ihren Rat bitten sollte – stehen Sie dann bereit?

Das Thema ist mir eine Herzenssache. Wenn ich gefragt werde, bringe ich mich gerne ein.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%