WirtschaftsWoche: Herr Röttgen, wie fest steht der Westen im zweiten Kriegsjahr noch zusammen?
Norbert Röttgen: Der Westen hat seit Beginn des Krieges mit einem Maß an Einigkeit reagiert, das Putin sicher nicht erwartet hatte. Aber unterhalb der Oberfläche gibt es tiefgreifende Differenzen. Sie betreffen die Bereitschaft zur militärischen Unterstützung der Ukraine sowie die militärischen Voraussetzungen für Verhandlungen. Je nach Erfolg oder Misserfolg der ukrainischen Gegenoffensive wird diese Differenz zu überbrücken sein oder aufbrechen. In dieser Kontroverse stehen sich die baltischen, mittel- und osteuropäischen Staaten für eine stärkere militärische Unterstützung einerseits und Deutschland und Frankreich andererseits gegenüber.
Wie bewerten Sie dabei den Beitrag Deutschlands?
Deutschland ist mit der Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers sehr gut gestartet. Leider folgten darauf quälende Monate des Verhinderns und Verzögerns. Nur unter Druck von innen und außen kam es schließlich zu den notwendigen Waffenlieferungen. Inzwischen ist die Unterstützung bei Waffen, Munition und Ausbildung ordentlich. Trotzdem beruht noch immer alles auf dem sehr viel größeren amerikanischen Engagement. Politisch hat das Verhalten des Bundeskanzlers bei den baltischen, Mittel- und osteuropäischen Staaten tiefe Enttäuschung ausgelöst.
Wird die „Zeitenwende“ von der Bundesregierung konsequent umgesetzt?
Nein. Von den 100 Milliarden Sondervermögen ist noch nichts ausgegeben, es schmilzt unter der Inflation dahin. Eine strategische Orientierung der deutschen Sicherheitspolitik unter Einschluss der Zeit nach dem Krieg ist nicht vorhanden.
Zur Person
Norbert Röttgen war von 2014 bis 2021 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Von 2009 bis 2012 war der CDU-Politiker Bundesumweltminister.
Die Kosten des Krieges steigen täglich. Wächst damit nicht auch der Druck auf den Westen und die Ukraine, eine Verständigung mit Russland zu suchen?
Nein, denn das würde unendlich teuer werden. Die Bundesregierung muss noch viel mehr und vor allem besser kommunizieren, warum wir der Ukraine helfen. Dabei geht es um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine, aber eben auch um unsere eigenen Sicherheitsinteressen. Denn was passiert, wenn die Ukraine nicht gewinnt? Wollen wir wirklich in einem Europa leben, in dem Grenzen nicht mehr sicher gelten und das Recht der Stärkeren entscheidet, ob man Frieden und Freiheit leben kann? Wir haben durch unzulängliches Handeln selbst viel zu verlieren.
Sehen Sie in nächster Zeit die Chance auf Verhandlungen - und sei es zunächst einmal nur für einen Waffenstillstand?
Putin will diesen Krieg führen. Darum haben Verhandlungen eine militärische Vorbedingung, die im militärischen Erfolg der Ukraine liegt. Ab dem Zeitpunkt, zu dem klar ist, dass die Ukraine militärisch die Oberhand gewonnen hat und Putin mit Gewalt nichts mehr erreichen wird, kann die Ukraine verhandeln. Wie schnell dieser Zeitpunkt erreicht wird, liegt maßgeblich an der Unterstützung des Westens. Je effektiver wir die Ukraine militärisch unterstützen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Gegenoffensive. Leider haben das noch immer zu viele nicht verstanden und selbst Dinge wie Munitionsbeschaffung verlaufen schleppend.
Präsident Selenskyj verlangt, dass Russland sich vollständig aus allen Gebieten der Ukraine zurückzieht. Wie realistisch ist diese Forderung?
Erinnern Sie sich an Butscha und Irpin. Präsident Selenskyj kann den Menschen nicht sagen, dass er sie diesem Horror überlässt. Das kann er angesichts der schrecklichen Verbrechen der russischen Besatzer nicht verantworten. Die Möglichkeit von Verhandlungen setzt indessen nicht voraus, dass alle Gebiete zurückerobert werden. Aber das Momentum muss klar und nicht rückholbar auf ukrainischer Seite liegen.
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