




Jimmy Carter gilt unter den US-Präsidenten als einer der Gescheiterten. Als einer, der nach nur einer Amtszeit aus dem Weißen Haus gejagt wurde, auch wegen einer Rede, die er im Jahr 1979 hielt, und die als „Malaise Speech“ in die Geschichte einging. Als eine, die zu negativ die Schwächen der USA beschrieb, zu direkt, so gar nicht amerikanisch-optimistisch. Davon hat Carter sich nie erholt.
Roman Herzog, ehemaliger Bundespräsident und am Dienstag im Alter von 82 Jahren verstorben, ist kein Jimmy Carter. Aber man muss den Vergleich ziehen, um zu begreifen, dass sein wichtigstes politisches Vermächtnis, die berühmte Berliner Ruck-Rede aus dem Jahr 1996, auch ein Akt des Mutes war. Denn Herzog stellte darin ebenso eindringlich wie sein US-Kollege die Frage: „Was ist los mit unserem Land?“ – und gab Klartext als Antwort: „Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression - das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber einen Dreiklang in Moll.“
Das eigentliche Problem der Deutschen, so Herzog weiter, sei also ein mentales: „Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüssten, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“





Herzogs Ausführungen gipfelten in zwei Sätzen: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen.“
Das saß – umso mehr von einem Mann, den man vielleicht nicht lieben musste (Herzog kam 1994 erst im dritten Wahlgang gegen Herausforderer Johannes Rau zum Zug, selbst für Helmut Kohl war der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes erst nur zweite Wahl), aber den jeder respektierte. Der gebürtige Bayer, 1934 in Landshut geboren, war bescheiden im Auftreten, nüchtern im Umgang – aber als brillanter Staatsrechtler mutig in Gedanken.
Den bewies er im Präsidialamt beim innenpolitischen Ruf nach Reformen, aber auch beim Mut, außenpolitisch Demut zu zeigen. Zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes gegen die Nazis bat Herzog alle polnischen Opfer des Krieges um Vergebung. Er machte 1996 den 27. Januar zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.
Mit dem politischen Ruhestand konnte Herzog gut umgehen, schließlich „scheide ich ja heute nur aus dem Amt und nicht aus dem Leben“, wie er am Tag des Abschieds gewitzelt hatte. Und doch teilte Herzog eins mit Carter: Auch er schien mit seiner Ruck-Rede zu hadern, weil der echte Ruck ausgeblieben sei. So klang Herzog vergangenes Jahr in einem Interview beinahe resigniert, als habe sich die Lage Deutschlands im Vergleich zu 1996 kaum geändert.
„Ich habe den Eindruck, dass Deutschland sich zu sehr ausruht, und zwar nicht nur die Regierenden, sondern auch die große Mehrheit der „einfachen“ Bürger“, gab Herzog zu Protokoll. „Unserem Land geht es gut, keine Frage. Aber wir haben aktuell mit unserer boomenden Wirtschaft nicht nur das Glück des Tüchtigen. Die niedrigen Zinsen etwa lassen uns die noch immer hohe Staatsverschuldung nicht spüren. Das verleitet dazu, sich bequem zurückzulehnen.“
Herzog kritisierte die Rentenpolitik, etwa die Rente mit 63, weil sie den Wohlstand der Zukunft gefährde. Und wer genau hinhörte, konnte vernehmen, wie der CDU-Mann seine CDU-Kanzlerin Angela Merkel dafür mitverantwortlich machte. Denn zwar erkannte Herzog an, Merkel schaffe es in bester Adenauer-Manier, anderen Parteien die guten Wahlkampfthemen wegzunehmen. Aber er ging mit deren Erfolgsrezept der „asymmetrischen Demobilisierung“ hart ins Gericht. Sie habe dazu beigetragen, dass sich zu viele Menschen von der Politik abgewendet hätten. „Wer eine sinkende Wahlbeteiligung für seinen eigenen Erfolg in Kauf nimmt, bekommt irgendwann die Retourkutsche.“ Ein mutiger Mann halt, dieser Roman Herzog.