Rückversicherer in der Pandemie Welche Lehren man aus der Pandemie ziehen kann

„Das war das erste Mal, dass ein Coronavirus mit ähnlichen Eigenschaften wie SARS-CoV-2 sich ausgebreitet hat“ Quelle: imago images

Rückversicherer berechnen Schadenszenarien – Gesellschaften diskutieren sie aus. Ein Gespräch mit Christoph Nabholz über Streitkulturen in Demokratien, überschätzte Gesundheitssysteme und Lehren der Pandemie für den Klimawandel.

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Dr. Christoph Nabholz ist Chief Research Officer am Swiss Re Institute.

WirtschaftsWoche: Mit Ausnahme weniger Länder, die Corona zumindest im Augenblick unter Kontrolle zu haben scheinen, sehnen sich die Menschen nach einer Perspektive: Wann sie wieder so leben können wie früher. Wissen Sie es?
Christoph Nabholz: Ich hoffe, dass in Europa die meisten Länder den Impfstoff in genügend großen Mengen haben werden, dass zumindest bis zum Sommer ein großer Teil der vulnerablen Personen geschützt werden kann. Damit sollten wir wieder etwas mehr Luft kriegen in den Spitälern. Die Rückkehr in ein normales Arbeitsleben erhoffe ich bis Ende des Jahres.

Das ist noch eine lange Zeit.
Das Virus wird bleiben. Ich sage nicht, dass wir es komplett unter Kontrolle halten werden oder dass wir es einfach so los werden. Es wird weiterhin mutieren, wir werden auch in Zukunft mit ihm umgehen müssen.

Risiken einzuschätzen gehört zum Kerngeschäft von Versicherungsunternehmen. Seit wann hatten Sie bei der SwissRe das Risiko Pandemie bewusst auf dem Schirm?
Wir hatten das schon immer auf unserer Agenda. Aber der Ausschlag gebende Moment war SARS 2002.

Dr. Christoph Nabholz ist Chief Research Officer beim Swiss Re Institute Quelle: PR

Der Erreger, der aus derselben Virusfamilie stammt wie das Coronavirus und erstmals in der chinesischen Provinz Guangdong auftrat. An der Infektion starben damals weltweit mehr als 800 Menschen.
Das war das erste Mal, dass ein Coronavirus mit ähnlichen Eigenschaften wie SARS-CoV-2 sich ausgebreitet hat. Damals wurde es aber noch sehr schnell unter Kontrolle gebracht. Ab 2006 hatten wir das Pandemie-Modell dann wirklich am Laufen. Seitdem sind wir kontinuierlich am Updaten.

Wie darf man sich das vorstellen? Was machen Sie da?
Wir haben ein ganz großes Pandemie-Modell der SwissRe, um Rückstellungen zu tätigen für große Ereignisse, die uns treffen könnten. Das ist regulatorisch vorgeschrieben. Wir geben etwa 100 Indikatoren ein wie die Replikationsrate, die Sterberate oder die Interventionsrate, also welche medizinischen Interventionen greifen. Aber auch wie wir als Gesellschaft darauf reagieren, wie viel Freiheit man einschränken darf. In Ländern wie China und Thailand hat der Staat sehr rasch eingegriffen, was in anderen Ländern wie Schweden gesetzlich nicht möglich war. All diese Faktoren projizieren in verschiedenen Kombinationen unterschiedliche Pandemie-Welten. Bei dem Großrisiko-Modell gehen wir immer vom worst case aus. Covid-19 ist nicht die schlimmste Variante.

Was könnte noch schlimmer sein?
Ein Virus, das beispielsweise sehr viel schneller mutiert – ein klassisches Influenza-Virus mutiert fast um das Doppelte so schnell – und dabei so letal ist wie Covid-19 oder sogar noch tödlicher. Ein Virus, das sich sehr schnell ausbreitet, ist sehr schwierig zu kontrollieren, da es sich exponentiell ausbreitet. Die jetzt neu aufgetretenen mutierten Varianten aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien sind auch nochmal schneller, was die Lage der Hospitäler verschärft.

Wie häufig werden Modelle angepasst?
Da muss man unterscheiden. Das große Pandemiemodell wird einmal im Jahr überarbeitet. Man versucht, das Modell stabil zu halten. Wir dürfen das nicht mit Covid-19 vergleichen, wo wir gerne ein epidemiologisches Modell hätten, um vorherzusehen, was in den nächsten zwei Monaten passiert. Aber wir müssen natürlich etwas am Laufen halten. Um ein Gefühl zu kriegen, wohin die Reise geht. Deshalb arbeiten wir zusammen mit Universitäten zusammen an dem Pandemiemodell. Bei der Trinity Challenge etwa, wo wir mitmachen, um auch in Zukunft bessere Interventionen zu ermöglichen.

Die Trinity Challenge, das ist die weltweite Kooperation von Universitäten, Stiftungen, Technologie- und Gesundheitskonzernen. Swiss Re stellt den Forschern und Analysten des Netzwerk die gemeinsam mit dem US-Softwarekonzern Palantir entwickelte Daten- und Analyseplattform „Risk Resilience Center“ zur Verfügung.
Die Plattform kann beispielsweise Modellprognosen zu Bettenbelegungsraten in Krankenhäusern und Intensivstationen in Echtzeit berechnen. Für Großevents sind solche Modelle wichtig, da wir Investoren über die potenzielle Schadenlage informieren müssen. Das ist wichtig, da es bei Versicherungsschäden immer wieder zu Verzögerungen kommt. Daher rapportieren wir nicht nur über alle bereits eingetroffenen Schadenmeldungen, sondern treffen auch eine Aussage über noch ausstehende Schäden.

Fließen da zum Beispiel auch Gerüchte ein, dass die Olympischen Spiele in Tokio auch 2021 nicht stattfinden können?
Genau. So etwas kommt dann auch in die Schadenvorhersage rein. Das sind die Schäden, die noch nicht stattgefunden haben, aber schon angezeigt sind.

Welche Erfahrungen man aus der Spanischen Grippe ziehen kann

Welche Schlüsse haben Sie bereits aus den vergangenen Monaten gezogen?
Es ist ein sehr schwieriges Umfeld für Prognosen, wie sich das Virus ausbreiten wird, und welche Letalität es mit sich bringen wird. Man ist immer wieder überrascht, wie schnell das Virus Wege findet, um zu überleben. Es passt sich an – und es passt sich sehr schnell an. Wir werden sicher auch in den nächsten Jahren jährlich einen Impfschutz auffrischen müssen mit einer Impfdosis, die angepasst ist an die neuen Viren-Stämme, die dann gerade zirkulieren.

Die Spanische Grippe ist die Basis für das Pandemiemodell der SwissRe. Ist es hundert Jahre später noch zeitgemäß?
Eine Pandemie wie Covid-19 hatten wir tatsächlich noch nie in dem Ausmaß. 1918 war sie sicher noch schlimmer, aber nicht in diesem modernen Umfeld, wo wir sehr viele medizinische Möglichkeiten haben. Wegen der Letalität und des Verbreitungsfaktors ist die Spanische Grippe dennoch sicher eines der Grundszenarien. Wir haben natürlich auch die Asiatische Grippe und die Hongkong-Grippe mit einbezogen. Auch die Schweinegrippe. Unser Modell muss für verschiedene Pandemien herhalten. Vor allem für künftige. Deshalb gliedern wir auch verschiedene Staaten ein. Länder in Asien, die sich bereits 2002 sehr wohl damit befasst haben und deshalb einen sehr effektiven Pandemieplan hatten. In Europa gab es dagegen nur ein paar wenige Fälle. Solche Unterschiede muss man mit hinein nehmen.

1918 war die Welt auch nicht so eng vernetzt wie heute.
Da kommt einiges zusammen, was Covid-19 speziell macht. Die Globalisierung. Da hat man gesehen, wie schnell das Virus sich global verbreitet. Unglaublich, wie schnell das ging. Aber auch das Monitoring ist neu. Wie nah wir dran sind, wie schnell die Zahlen geliefert werden. So einen Live-Tracker hat man noch nie gesehen. Die Wissenschaft hat sich ebenfalls enorm verändert. Dass man sagt, wir arbeiten zusammen, das ist ein globales Problem. Das finde ich enorm. Und dann natürlich die Impf-Strategie: Binnen weniger als zwölf Monaten einen Impfstoff auf den Markt zu bringen, der dann zugelassen wird, und zwar regulär. Das ist schon super speziell.

Sind wir in Europa trotzdem reingestolpert wie die blinden Hühner?
Teilweise schon. Es gibt aber auch Länder, die haben es wirklich gut gemanagt. Wenn ich etwa Finnland anschaue. Auch Deutschland hat zumindest die erste Welle sehr gut gemanagt.

Warum ist man in der zweiten Welle nicht mehr erfolgreich?
Für die zweite Welle muss man ganz klar sagen, dass politisch agiert wurde. In der ersten Welle hat man Sofort-Maßnahmen ergriffen und auch wirklich von Notfall-Rechten Gebraucht gemacht. In der zweiten Welle war das weniger der Fall. Es wurde ein politischer Entscheid gesucht. Agilität wird dadurch ganz klar reduziert.

Hatten Sie das so erwartet?
Nachdem wir einen schönen Sommer hatten und alle Freiheit genossen haben, war es schwierig, die zweite Welle zu meistern. Da sind wir bei Verhaltensforschung. Wenn man die Freiheit mal weg genommen hat, sie wieder frei gibt und sie dann wieder wegnehmen will, dann rebelliert der Mensch. Das ist ein ganz normales Pattern, das wir immer wieder sehen. Wir haben gewusst, dass es so passieren wird.

Erhöht der Debatten-Faktor das Risiko-Szenario?
Das spielt auch eine große Rolle. Wir sehen die Diskussion darüber, wie viel wir zulassen dürfen. Das haben wir so noch nie gesehen. Ein Pandemie-Management, das alles berücksichtigen muss, den balanced outcome sucht. Wie viel Sterblichkeit dürfen wir denn noch gestatten und wie viel ökonomische Freiheit wollen wir denn noch lassen? Das führt natürlich dazu, dass die ergriffenen Maßnahmen stärker oder schwächer ausfallen. Die Faktoren schauen wir uns natürlich an. Was können wir daraus lernen? Aber wir sind ja immer an dem worst Case-Szenario interessiert.

Den müssten Sie im Zweifelsfall bezahlen, darauf müssen Sie vorbereitet sein?
Genau. Ein wichtiger Faktor wird auch die Frage sein, ob es mehr Pandemien gibt.

Warum die Coronapandemie nicht die letzte Pandemie sein wird

Können Sie dazu schon eine Aussage machen?
Wir sehen, dass wir vielleicht alle 30 Jahre eine Pandemie haben. Das war bisher der Schnitt. Die Frage ist: Wird sich das jetzt verändern? Wir haben schon einen enormen Biodiversitäts-Druck. Wir bauen Wälder ab, und indem wir Habitate verändern, werden sich die Viren, die zumal in irgendwelchen Tieren vorhanden sind, einen neuen Träger finden.

Gibt es deshalb mehr Übertragungen?
Das ist immer noch schwierig zu sagen. Wir beobachten es. Wir sehen, dass diese Fälle zunehmen. Die Frage ist, hat die Wissenschaft einfach mehr gemacht? Schaut sie genauer hin, oder sind es effektiv mehr Fälle? Das ist noch ungeklärt.

Darf man sich das so vorstellen, wie wenn mehr Polizisten auf Streife gehen? Dann finden sie vielleicht auch mehr Diebe.
Das ist genau so. In vielen Ländern werden die Fälle auch gar nicht richtig erfasst. Die Gesundheitssysteme und epidemiologischen Zentren sind nicht so ausgebaut, dass wir Afrika oder irgendwo im asiatischen Raum diese zoonotischen Übertragungen wirklich feststellen. Da hat sich in den letzten Jahren aber einiges getan. Deshalb sehen wir tatsächlich: Da passiert viel. Es war deshalb nicht unwahrscheinlich, dass irgendwann das Coronavirus wieder auftauchen wird. Dass es nun in diesem Maße kam, das ist auch Pech.

Sie sind selbst Naturwissenschaftler. Hatten Sie jemals persönlich etwas in der Art erwartet?
Gute Frage. Vom Modell her ja. (lacht) Aber man glaubt es erst, wenn es wirklich wahr ist. Wir hatten auch verschiedenste Events zu diesem Thema. Man ist sich des Themas bewusst und wahrscheinlich auch bewusster als das in anderen Industrien der Fall wäre. Es gehört einfach mit dazu. So etwas fließt natürlich auch in unseren Prämienmodus ein.

Hat ein Großteil der Welt die Gefahr dennoch unterschätzt?
Der Global Health Security Index kam 2019 raus, im Jahr vor der Pandemie. Er ist also wirklich aktuell. Dort wurden 195 Länder untersucht, wie gut sie auf eine Pandemie vorbereitet waren. Wenn wir uns das heute anschauen – ich glaube Deutschland war auf Platz 14. Die USA waren auf Platz 1. China war auf Platz 51 und überhaupt nicht vorbereitet, wenn man nur nach dem Index geht. Da sieht man schon, was überschätzt wurde.

Der Index konzentrierte sich stark auf die Qualität der Gesundheitssysteme.
Bei einigen Ländern hat das auch funktioniert. Finnland war auch unter den Top 10. Und dort war man dann auch in den Top 10, als es darauf ankam. Die USA nicht. Ich denke, das hat eine politische Dimension, wie eine Situation dann gemanagt wird. Sind denn die Politiker willens und bemächtigt, auch zu agieren und bestehende Pandemie-Pläne umzusetzen? Denn Pandemie-Pläne haben ja existiert.

Vielerorts aber in den Schubladen.
Das kostet natürlich. Lager aufzubauen, Schutzmasken usw. aufzubewahren und Medikamente. Das kostet sehr viel Geld. Darum muss die Politik natürlich Entscheidungen treffen. Aber as sind nie Entscheidungen, die schnell umgesetzt werden, wenn eine Pandemie nur alle 30 Jahre vorkommt. Und dann klopft die Pandemie an die Tür…

Werden wir in Zukunft besser auf der Hut sein?
Nach dieser Covid-19 müssen wir unser Pandemie-Modell wieder rekalibrieren. Denn die Länder werden hoffentlich aus der Erfahrung lernen. Das Virus wird uns weiter begleiten. Die jährliche Impfung wird sicher auf uns warten. Wir haben schon Langzeit-Verhaltensänderungen: Hygienemaßnahmen, Händewaschen, Maskentragen usw. Das werden wir auch in Zukunft machen müssen. Wie wir das in Asien schon vor der Pandemie gesehen haben. Ich hoffe, dass einiges bleiben wird.

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Erwarten Sie auch Lehren für andere Hochrisiko-Themen? Für den Umgang mit dem Klimawandel?
Die beiden Themen hängen zusammen. Stichwort Biodiversitätsdruck durch Ökosystem-Entwicklungen. Der Klimawandel in diesem Umfeld bringt neue Gefahren mit sich. Er wird dazu beisteuern, dass wir auch in Zukunft andere Epidemien sehen wie etwa das Zika-Virus. Das sind Moskito-basierte Viren. Aber die haben sich auch verbreitet mit dem Klimawandel. Ich hoffe, dass wir dem Thema Klimawandel begegnen. Wir hatten ja schon ein richtiges Momentum. Das ist leider durch Covid-19 untergegangen. Ich hoffe, das Momentum kommt zurück.

Mehr zum Thema: Wie sich der Rückversicherer Swiss Re auf neue Pandemien vorbereitet

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