Manchmal, wenn man die Nachrichtenlage überblickt, fragt man sich als Redakteur, was eigentlich falsch läuft im politischen Betrieb. Eine Antwort auf diese Frage ist gar nicht so leicht, auch wenn man ahnt, dass sie etwas mit Erkenntnissen auf der einen Seite und mit der politischen Umsetzung der Erkenntnisse auf der anderen Seite zu tun hat - vor allem aber mit der Differenz, die dazwischen liegt.
Es war ja beispielsweise nicht unbekannt, dass von defekten Atomkraftwerken Strahlen ausgehen, die so unschöne Folgen zeitigen, dass keine Versicherung der Welt für sie haften mochte - trotzdem wurden diese Atomkraftwerke unter dem Beifall von so genannten „Markt“wirtschaftlern gebaut. Oder nehmen wir die Frauenquote: Jeder, der auch nur halbwegs bei Sinnen ist, möchte endlich die Lohnlücke zwischen Mann und Frau schließen, vor allem aber die Peinlichkeit überwinden, dass frau sich immer noch für jeden Lebensentwurf rechtfertigen muss – und man für keinen. Aber kaum wird Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) symbolisch konkret (Quote in Aufsichtsräten) , schon fallen sie alle über den „Dirigismus“ der Ministerin her.
Falsch verstandene Solidarität
Das Fukushima der SPD ist die Rente mit 67 – und die Quote vom Dienst bei den Sozialdemokraten ein erkenntnisgetriebener Mann: Peer Steinbrück, Kanzlerkandidat. Die Partei ist gerade dabei, den Ausstieg aus dem Einstieg in eine ehrliche Rentenpolitik vorzunehmen - und Steinbrück der Mann, der das alles über sicher ergehen lassen muss, weil falsch verstandene Solidarität zur SPD gehört wie falsch verstandene Frauenemanzipation (die selbstbestimmte Hausfrau!) zur Union.
Um was geht es? Die SPD hat vor einigen Jahren überraschenderweise Kenntnis erhalten vom demographischen Wandel und an der Seite der Union die so genannte „Rente mit 67“ eingeführt. Kernstück der Reform war die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters - mithin die Verlängerung der Lebensarbeitszeit – mit dem Ziel, die Rentenkassen zu entlasten und das Rentenniveau einigermaßen stabil zu halten. Freilich, schon damals war sonnenklar, dass die „Rente mit 67“ nicht ausreichen wird, um Arbeitnehmern nach dem Ende ihres Erwerbslebens ein Niveau von 50 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns zu garantieren. Mit einiger Verspätung ist das nun auch der SPD aufgegangen. Sie hat in den vergangenen Wochen eifrig über das Thema diskutiert und hat beschlossen, eine Absenkung des Rentenniveaus auf 43 Prozent skandalös zu finden.
Nun wäre es naheliegend, den Skandal durch eine weitere Anhebung des Rentenalters auf sagen wir: 75 Jahre, zu beheben und das Niveau dadurch stabil zu halten. Aber nee, sagt die SPD, weil es in Deutschland fast nur noch schwerstarbeitende Stahlarbeiter, Kohlekumpels (und Dachdecker) gibt, ansonsten aber ausnahmslos Burn-Out-Geschädigte, sei vielmehr dafür Sorge zu tragen, dass eine Mindestrente von 850 Euro eingeführt wird – sowie eine garantiert abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren.
Der Anfang muss gemacht werden
Im Einzelnen ist dazu folgendes zu sagen:
1. Eine Mindestrente ist eine ausgezeichnete Idee.
Wer es mit der vielbeschworenen „Eigenverantwortung“ ernst meint, muss auch dafür Sorge tragen, dass arbeitende, geringverdienende Menschen sie wahrnehmen können. Das Ergreifen von Freiheit ist immer auch an materielle Voraussetzungen gebunden – und die Aufgabe des Staates ist es – im Dialog mit den Unternehmen - dafür die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen: mit Sockellöhnen auf der einen Seite und einer Basisrente auf der anderen. Union (und FDP) werden das – wie vieles andere auch - erst in zehn Jahren begreifen. Aber was soll’s. Ein Anfang muss heute gemacht werden – und die gutverdienende Mitte wird’s zahlen müssen.
2. Eine abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren ist eine schlechte Idee.
Sie muss für tatsächlich körperlich schwer arbeitende Menschen in Erwägung gezogen werden, sicher, aber sie kann keinesfalls die Regel sein. Ganz im Gegenteil: Weil die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland von 70 Jahren (1962) auf 80 Jahre (2010) gestiegen ist, während die Zahl der Nachkommen seit vier Jahrzehnten stagniert, müssen unsere Nachkommen mindestens fünf Jahrzehnte geben (zahlen), um höchstens drei Jahrzehnte – als Kinder, Jugendliche und Rentner – Leistungen empfangen zu können. Auch ist es dringend erforderlich, die Rentenauszahlung an bestimmte Bedingungen zu knüpfen (Gesundheitsvorsorge!). Kurzum: Der Zug der Zeit fährt in Richtung „Rente mit 75“.
Fazit: Die SPD täte gut daran, die Rentendebatte schonungslos zu führen – und die Deutschen auf bittere Wahrheiten vorzubereiten. Peer Steinbrück hat der Kanzlerin zuletzt in der Euro-Debatte vorgehalten, sie schenke den Bürgern keine reinen Wein über die Kosten der Währungsrettung ein. Das stimmt. Nur leider tut er selbst in den Rentendebatte so, als würden die Deutschen - ein schrumpfendes, alterndes Volk, das sich mit Zuwanderung schwer tut – einfach weitermachen können wie bisher.
Das ist nicht nur fahrlässig. Das ist auch politisch dumm. Denn tatsächlich taugt die Rentendebatte zum Wahlkampfthema: Die staatliche Rente ist alles andere als sicher. Die private Rente (Riester, Rürup etc., also Lebensversicherungen mit Renditeversprechen) induziert an den oligarchischen Finanzmärkten exakt die Risiken, zu deren Vermeidung sie recht eigentlich eingeführt wurde. Und die Niedrigzinspolitik der Regierungen und Notenbanken zur Rettung angeschlagener Banken und Staaten provoziert Inflation, die über kurz oder lang am Ersparten der Deutschen zehren – und die knapper werdende Rente noch einmal minimieren wird. Anders gesagt: Das Rentenniveau sinkt doppelt und dreifach, weshalb die Frage der Lebensstandardsicherung zum vielleicht zentralsten Problem der Sozialpolitik in den nächsten ein, zwei, Jahrzehnten avanciert.
Eine Partei, die sich als Volkspartei versteht und den Kanzler stellen will, braucht daher eine schlüssige Rentenpolitik, die die Mängel der staatlichen und privaten Vorsorge gleichermaßen beim Namen nennt, die keinen geldpolitischen Schlingerkurs fährt – und die Altersarmut nicht mit dem Aufbau von Jungenarmut beheben will. Eine solche Partei aber ist heute weder die CDU – und schon gar nicht die SPD. Die – bittere - Wahrheit ist: Die Jungen müssen von Rentenleistungen Schritt für Schritt entlastet werden, damit sie in fünf Jahrzehnten Arbeit genügend Reserven aufbauen – und die Gewissheit gewinnen können, dass sie dennoch fürs Greisenalter wenig zu hoffen haben. Die entscheidende Frage ist: Wer sagt’s ihnen?