Schlachthöfe überfordert Bauern beklagen Schweinestau: „Keine Lust mehr auf den Beruf“

Viele Schlachthöfe stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen. Quelle: dpa

Die Zahl der Schweine, die dringend geschlachtet werden müssen, ist durch die Pandemie und die Feiertage auf den Rekordstand von einer Million geklettert. In den schweinehaltenden Betrieben spitzt sich die Lage zu.

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Thomas Gartz ist frustriert. Zwei Mitarbeiter hat der 35-Jährige entlassen müssen. Nun sucht er händeringend über Ebay-Kleinanzeigen nach Aushilfen, die ihm stundenweise zur Hand gehen. „Ich finde niemanden. Ich zahle einen Stundenlohn von 15 Euro, aber es will keiner machen.“ Und so züchtet er rund um die Uhr gemeinsam mit seiner Frau und seiner Mutter Ferkel und mästet sie anschließend zu Schlachtschweinen. Damit können die Tiere von der Geburt bis zur Schlachtreife in ein und demselben Betrieb bleiben. Dadurch fällt der Transport zum Schweinemäster weg.

Derzeit hat Gartz rund 200 Sauen und 2000 Schweine auf seinem Hof. 370 Schweine müssten dringend vom Schlachthof Westfleisch abgeholt werden. Doch Westfleisch und andere Schlachthöfe stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen.

Den landwirtschaftlichen Betrieb von Gartz im niederrheinischen Dülken bei Viersen gibt es schon seit 1703. „Wir sind hier schon irgendwas in der 30. Generation“, sagt Gartz. „Ich werde wahrscheinlich die Generation sein, die die Sauenhaltung abschafft. Mein Sohn wird sich dann wohl oder übel einen ganz anderen Beruf suchen müssen.“ 17 landwirtschaftliche Betriebe habe es in der näheren Umgebung gegeben. „Jetzt bin ich der Letzte,“ sagt Gartz.

Seit mehr als 20 Wochen stauen sich nicht nur bei Gartz die Schweine in den Ställen. Der Grund: Die erhebliche Einschränkung der Kapazitäten von Europas größtem Schlachtbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Der Schweinestaus beginnt genau in der Zeit, in der dieser Schlachtbetrieb aufgrund eines Corona-Ausbruchs dicht gemacht wurde beziehungsweise stark reduziert läuft. Ähnliche Fälle gab es auch beim Branchen-Vize Westfleisch. Auch das Schlachtunternehmen Vion an den Standorten Perleberg, Crailsheim und Emstek sowie Willms-Fleisch in Loxstedt kämpfen derzeit mit Einschränkungen durch das Virus, ebenso wie der Zerlegebetrieb bei Boeser Frischfleisch in Frechen. Hinzu kommen Totalausfälle bei kleinen, regionalen Schlachthöfen. So musste im November ein Schlachthof im rheinischen Düren wegen erhöhter Corona-Fälle schließen. Anfang Januar wurde ein Schlachthof in Neuruppin wegen des Verdachts auf Tierquälerei geschlossen.

Und so baut sich der Schweinestau immer weiter auf. Nach einer Kalkulation der Interessengemeinschaft der Schweinehalter (ISN) warteten vor den Feiertagen knapp 600.000 Schweine auf die Schlachtung. Jede Woche kamen 30.000 bis 60.000 Schweine dazu. Dass der Überhang an Schlachtschweinen über die Feiertage – wie in jedem Jahr – deutlich ansteigen würde, war abzusehen. Die Höhe des Anstiegs ist jedoch etwas überraschend. Vor Weihnachten sah es so aus, als könnte man durchaus unter der Eine-Million-Marke bleiben. Schon in normalen Jahren baue sich aufgrund der eingeschränkten Schlachtungen an den Feiertagen ein Überhang auf, der bis in den späten Januar abgebaut werden müsse, weiß ISN-Experte Klaus Kessing. „Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass in normalen Jahren Schlachtungen in die Tage vor Weihnachten vorgezogen werden können, um die Situation etwas zu entzerren.“ Dies sei angesichts der aktuell verfügbaren Schlachtkapazitäten diesmal nicht möglich gewesen.

Die entfallenen Schlachttage rund um Weihnachten konnten auch mit dem zusätzlichen Schlachttag am Sonntag, den 27.12.2020 nicht kompensiert werden. Auch die über die Feiertage in die Heimatländer abgereisten Mitarbeiter hinterließen Lücken in den Schlachthöfen. Zusätzlich dürften auch die gesetzlich notwendigen Umstellungen der Anstellungsverhältnisse zum Jahresbeginn für Behinderungen bei den Arbeitsabläufen gesorgt haben. „Zusammengefasst ist es in anderen Jahren besser gelungen, die Kapazitäten über die Feiertage zu Weihnachten und über den Jahreswechsel aufrecht zu erhalten. Auch die kurz vor Weihnachten eingeleiteten Verschärfungen beim Lockdown haben sich negativ auf den Absatz am Schweinefleischmarkt ausgewirkt“, heißt es bei der ISN.

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Kein Wunder also, dass sich in den schweinehaltenden Betrieben die Lage immer weiter zuspitzt: Stallplätze werden nicht frei und hinzu kommen steigende Kosten für Futter und Strom. „Die schlachtreifen Schweine brauchen Unmengen von Futter“, sagt Gartz. „Und produzieren Unmengen von Gülle.“ Die könne derzeit aber aufgrund von gesetzlichen Sperrfristen nicht auf die Felder ausgebracht werden. Daher musste Gartz zusätzlich Lagerkapazitäten für die Gülle anmieten. Zudem müsse er die Ställe viel öfter reinigen und desinfizieren. „Nicht nur wir haben Stress, auch die Schweine.“ Zwangsweise begibt sich Gartz damit auf Kollisionskurs mit dem Tierschutz.

Seinen Verlust durch den Schweinestau beziffert Gartz auf rund 2000 Euro pro Woche. Das ideale Schlachtgewicht, bei dem Gartz den besten Preis für sein Schwein erzielt, liegt bei 92 Kilogramm. Jedes Gramm darüber macht ihm den Preis kaputt. Doch die Schweine, die bei ihm im Stau stehen, wiegen schon 100 Kilogramm und mehr. „Wir verlieren 21 Euro pro Schwein“, sagt Gartz. Damit steht der Bauer aus NRW noch vergleichsweise gut da. „Kollegen aus Niedersachsen verlieren derzeit rund 50 Euro pro Tier“, weiß Gartz. Es gebe sogar Kollegen, die ihre Tiere zum Schlachten ins Ausland, etwa nach Italien schicken.

Die Experten der ISN sehen allerdings Hoffnung: Der Abbau der Überbestände dürfte durch die geringere Zahl an nachwachsenden Schweinen deutlich beschleunigt werden. Auch der Absatz von Schweinefleisch spiele eine wichtige Rolle beim Abbau.

Mehr zum Thema: Was verschlägt den ehemaligen Bioland-Chef und früheren Ökobauer Thomas Dosch ins Schweinesystem

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