Schleppende Regierungsbildung Berlin liegt auf Eis

„Es ist wirklich Zeit für eine neue Regierung“, sagt Zypries. Quelle: dpa

Die Folgen der längsten Koalitionsbildung aller Zeiten werden für Politiker und Beamte immer abstruser. Verwalten statt gestalten lautet das Prinzip im Regierungsviertel.

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Brigitte Zypries hatte extra nur den Hinflug gebucht. Kurz vor Weihnachten wollte die SPD-Politikerin nach Teneriffa fliegen und dort so lange die Sonne genießen, bis sie wieder den Drang nach langen Terminen und schlechtem Wetter verspüren würde.

Es war ein schöner Plan – aus dem allerdings nichts wurde. Mitte Januar sitzt die Noch-immer-Bundeswirtschaftsministerin in ihrem Büro. Sie erledigt ihren Job wie gehabt. Aber der trübste Winter seit Jahrzehnten drückt genauso auf ihre Stimmung wie die schleppende Koalitionsbildung. „Es ist wirklich Zeit für eine neue Regierung“, sagt Zypries. „Wir können fast nur noch verwalten, kaum noch gestalten.“

Verwalten statt gestalten – das ist nicht erst seit Kurzem das Prinzip im Regierungsviertel. Die Große Koalition hat bereits vor fast einem Jahr weitgehend die Arbeit eingestellt. In der Regel dauert der Berliner Boreout rund um eine Bundestagswahl ein paar Monate. Spätestens im Dezember gibt es eine neue Regierung.

von Christian Ramthun, Marc Etzold, Max Haerder, Christian Schlesiger, Cordula Tutt

Doch dieses Mal dauert es länger denn je. Weil der Bundestag keinen Etat für 2018 verabschiedet hat, gilt eine vorläufige Haushaltsführung. Die erschwert es Ministerien, selbst kleine Projekte voranzutreiben. Auch das Kabinett tagt nur selten – und entscheidet nur das Nötigste. Zahlreiche anstehende Neubesetzungen von Spitzenjobs wie Botschaftern liegen auf Eis.

Die amtierende Nichtregierungsorganisation hat für einige Politiker skurrile Konsequenzen: Mehrere parlamentarische Staatssekretäre tragen noch immer ihren Titel, sind aber keine Abgeordneten mehr – und dürfen auch nicht mehr im Plenum des Bundestages herumlaufen. Manch ein Politiker hatte seine Wohnung bereits gekündigt und ist nun bei Parteifreunden untergeschlüpft. Nach dem Verlust ihrer Abgeordneten-Bahncard mussten sich andere in die Geheimnisse des Preissystems des Staatskonzerns einarbeiten.

Welcher Sparpreis ist der Beste? Viele Beamte sehnen sich nach Entscheidungen von vergleichbarer Tragweite. Ihnen bleibt angesichts der inhaltlichen Leere oft nichts anderes übrig, als spät ins Büro zu kommen und dafür früher zu gehen. Wer sich nach ihrem Befinden erkundigt, erhält Mails wie: „Ziemlich leere Flure ;-)“. Wen das Pflichtgefühl plagt, der arbeitet zwischen Kaffeepause und Mittagessen vor sich hin oder tippt auf den Fluren mit Kollegen, wer in einer neuen Regierung was wird. Falls es eine geben sollte.

Dass ausgerechnet in Berlin die Arbeitslosigkeit von Tag zu Tag zunimmt, während im Rest des Landes ein Wirtschaftswunder für Vollbeschäftigung sorgt, ist nicht einmal das größte Problem. Gravierender ist, dass zahlreiche Spitzenbeamte nicht länger bereit sind, ihre Karriereplanung der administrativen Kontinuität zu opfern. Im Dezember wechselten etwa zwei wichtige Abteilungsleiter aus dem Gesundheitsministerium ins Kabinett des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Neubesetzungen? Fehlanzeige.

Lieber Bahnhöfe als Haushalt

Noch trister ist die Lage im Finanzministerium. Die Beamten sehen sich gern als Mitarbeiter des Neben-Kanzleramts. Derzeit wird an der Berliner Wilhelmstraße allerdings weniger entschieden als in der Verwaltung einer kleinen Gemeinde.

Werner Gatzer, Haushalts-Staatssekretär und Architekt der schwarzen Null, hat das Haus bereits verlassen: Er kümmert sich nun lieber um die Bahnhöfe der Deutschen Bahn als um den Etat der Bundesrepublik. Sein früherer Kollege Thomas Steffen ist gedanklich bereits teilweise in den Vorstand der Bundesbank gewechselt, heißt es. Und Johannes Geismann, Staatssekretär Nummer drei, will nichts entscheiden. „Er kreuzt auf Vorlagen weder Ja noch Nein an“, spottet ein Beamter, „sondern schreibt meist ein R drauf.“ R wie Rücksprache.

Und der geschäftsführende Minister Peter Altmaier (CDU)? Nun, der Kanzleramtschef leidet unter einer fast schon legendären Entscheidungsschwäche. Immerhin hat sich seit dem Wechsel von Wolfgang Schäuble ins Bundestagspräsidium die Stimmung im Ministerium gebessert. Altmaier ist fast immer gut gelaunt, schüttelt vielen die Hand – auch den Pförtnern.

Mehr kommuniziert wird auch im Verkehrsministerium. Während der ehemalige Ressortchef Alexander Dobrindt (CSU) zumeist völlig losgelöst vom Rest des Hauses agierte, ist der geschäftsführende Minister Christian Schmidt (CSU) leutseliger. Aus seiner Zeit als Nur-Landwirtschaftsminister sind allerdings vor allem missglückte Versuche überliefert, Weltpolitik zu betreiben („An apple a day keeps the Putin away“). Zwar steht der Nachweis noch aus, dass er inhaltlich fundierter arbeiten kann. Doch sein zusätzlicher Job macht Schmidt erkennbar mehr Spaß als sein eigentlicher. Er dürfte ins Verkehrsministerium gekommen sein, um möglichst zu bleiben.

Beim wohl einflussreichsten Staatssekretär des Berliner Betriebs spiegelt sich das Hin und Her der Möchtegernkoalitionäre in den eigenen Karriereplänen: Jochen Flasbarth (SPD) war schon immer egal, wer unter ihm Umweltminister ist. Dass es ihm dabei nicht nur um die Rettung der Welt, sondern auch um sich ging, ahnten viele.

Nun wissen es fast alle. Als eine Jamaika-Koalition wahrscheinlich war, besorgte sich Flasbarth eine Anschlussverwendung: Er ist seit November Chef der bundeseigenen Gesellschaft für Zwischenlagerung. Die ist für die Unterbringung der Atomfässer zuständig, bis eines fernen Tages ein Endlager gefunden ist. Flasbarths Posten ist dem Vernehmen nach großzügig dotiert, allerdings längst nicht so interessant wie seine bisherige Tätigkeit. Deshalb ließ er sich eine große Tür offen. Den Endlager-Job macht der SPD-Mann erst mal ehrenamtlich, er ist nach wie vor Umwelt-Staatssekretär. Im Ministerium ahnen einige, dass er dies im Falle einer erneuten großen Koalition auch bleiben möchte.

Dann kann er etwa Brigitte Zypries Vorträge über die klimaschädlichen Folgen des Fliegens halten – wenn die dann nicht längst auf Teneriffa sein sollte.

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