Schlusswort

Deutschland muss sich neu erfinden

Deutschland, Land der Ideen? Nicht mal die wichtigste deutsche Industrie weiß, wofür sie künftig stehen will.

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Nur unter vier Augen oder in vertraulichen Hintergrundgesprächen schimmert die Wahrheit durch. Dann blickt man auch bei Regierungsmitgliedern in sehr besorgte Gesichter, und gelegentlich fällt ein Satz, der das Ausmaß dessen beschreibt, was uns noch erwartet. Es ist die Rede vom Diesel und der Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Dort tun viele noch immer so, als seien verpestete Innenstädte, mannigfaltiger vermuteter Betrug bei den Abgasmesswerten oder die schleppende Entwicklung beim Elektroauto kurzfristig lösbare Probleme. Viel Rauch um nichts, der nur entsteht, weil mal wieder die Grünen, überambitionierte US-Behörden oder ein paar verirrte Apokalyptiker am deutschen Selbstbewusstsein herumzündeln.

Aber das steht doch wie eine Eins. Sind wir nicht Meister der industriellen Fertigung?

Mag sein. Aber manchmal kommt der Punkt, an dem andere Talente gefragt sind. Sich neu zu erfinden, zu erkennen, was sich gerade grundlegend ändert, um nicht nur irgendwann auf den längst fahrenden Zug aufzuspringen, sondern ihn selbst in Gang zu setzen. Auch ein bisschen weniger selbstbesoffen auf den unzerstörbaren Reiz von „made in Germany“ zu setzen, gehört dazu.

In der Autoindustrie lässt die Erkenntnis weiter auf sich warten. Und mit jedem Monat wird die Zeit knapper, um die industrielle Umwälzung selbst anzutreiben, statt zum Getriebenen zu werden. Mit mehr als 400 Milliarden Euro Umsatz ist die deutsche Autoindustrie mit ihren Zulieferern nicht nur die wirtschaftlich wichtigste Branche, sondern auch wesentlicher Treiber von Deutschlands Exportboom. Wenn der Diesel aber nicht zu retten ist und in gut 20 Jahren jedes dritte Auto weltweit ein Elektroauto sein wird, dann sind die Aussichten noch düsterer, als der verdreckte Qualm aus manipulierten Motoren es derzeit nahelegt.

Es ist also höchste Zeit, dass die deutschen Autobauer diesen Wandel mit mehr Tempo und Konsequenz angehen. Und dass die Bundesregierung aufhört, in Brüssel und den USA Lobbying für den Status quo zu betreiben. Denn selbst wenn sich der Qualm des Abgasskandals irgendwann mal wieder verzogen haben sollte, werden wir sehen: Gelöst wurde nur ein Problem der Vergangenheit. Die Zukunft haben derweil andere in die Hand genommen.

Deutschland hat schlicht keine Idee davon, wofür es künftig stehen will. Als Land mit dem zweithöchsten Durchschnittsalter weltweit (nach Japan) ist das vielleicht nicht verwunderlich. Läuft doch alles angenehm ruhig, bitte bloß nichts ändern. Wo die Bürgerinnen und Kunden nicht mehr als den Ist-Zustand von Unternehmen und Regierung verlangen, fahren die ganz entspannt auf Sicht.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat nun gefordert, eine Investitionsverpflichtung des Staates ins Grundgesetz zu schreiben. Das ist sicher gut gemeint. Aber doch auch nur das Bemühen, volkswirtschaftlich Selbstverständliches in verfassungsrechtlichen Fettdruck zu überführen.

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