Der Kanzler überrascht alle. Er schreitet nicht durch den Haupteingang in den Saal, wo die Fotografenmeute auf ihn gelauert hat. Olaf Scholz – ganz Hanseat – vermeidet die große Bühne: Er federt durch den Seiteneingang hinein, da lungern keine Fotografen herum. Der Kanzler, gehüllt in einen tiefblauen Anzug, setzt sich – und die Fotografen stürmen in den Saal, um doch noch Bilder zu schießen. Der Kanzler dreht seinen Kopf umher, blickt erst auf die goldenen Kronleuchter, dann auf die holzgetäfelten Saalwände, lächelt – ganz so, als freue er sich über seine gelungene Überraschung. Dabei, meinen seine Kritiker, sollte Scholz am Freitag eigentlich keinen Grund haben, sich zu freuen.
Scholz muss abermals Rede und Antwort stehen. Zu illegalen Steuerdeals. Zu Millionenschäden. Und zu seiner Rolle dabei.
Der Kanzler hat an diesem Freitag vor dem Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft ausgesagt – bereits zum zweiten Mal. Den Anlass dafür bezeichnet Scholz als „Mutmaßung“, seine Gegner sprechen von einem Verdacht: Haben sich Hamburger SPD-Granden für die Warburg Bank eingesetzt – und ihr ermöglicht, Geld aus illegalen Cum-ex-Deals zu behalten?
Ein solcher Vorgang wäre ungeheuerlich: Bei entsprechenden Belegen müsste der Kanzler zurücktreten. Sofort. Der Begriff Cum-ex steht schließlich für einen der größten Steuerskandale Deutschlands, der Republik soll ein Milliardenschaden entstanden sein.
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Scholz hat die Vorwürfe wieder und wieder zurückgewiesen, doch er wird die Affäre einfach nicht los: An der Version des Kanzlers schüren immer neue Enthüllungen Zweifel – ganz so, als handele es sich dabei um frische Holzscheite, die ein Feuer immer wieder auflodern lassen. Verbrennt sich Scholz daran doch noch? Verglüht seine Kanzlerschaft also an diesem Freitag – ausgerechnet in der zutiefst sozialdemokratischen Hansestadt, der Scholz einst als Erster Bürgermeister diente?
Anders als mit seinem Seiteneingang-Trick schafft es Scholz nicht, der Affäre mit seinen Aussagen eine überraschende Wendung zu geben. Es gelingt ihm nicht, das Feuer auszutreten – weil er sich an wichtige Dinge nicht erinnern kann oder will.
Scholz hat auf der linken Saalseite Platz genommen, hinter einer hölzernen Fassade, auf einem Stuhl mit dunklem Lederbezug – im Plenarsaal der Hamburgischen Bürgerschaft, dem Parlament des Stadtstaates. Und Scholz sitzt auf der Regierungsbank – welch Ironie.
In Hamburg wuchs Scholz auf, hier trat er in die SPD ein, hier saß er jahrelang auf der Regierungsbank und stieg zum Ersten Bürgermeister auf – sein früheres Amt ist der Grund, warum Scholz nun abermals dort Platz nehmen darf. Beziehungsweise muss: Denn als Zeuge des Untersuchungsausschusses hat er keine Wahl.
Der Ausschuss befragt Scholz zu Vorgängen im Jahr 2016: Der Stadtstaat war damals drauf und dran, 47 Millionen Euro von der Warburg Bank zurückzufordern. Das Geldhaus hatte sich die Summe zuvor vom Staat erstatten lassen, weil es angeblich zu viel Steuern gezahlt hatte. Sogar die für Warburg zuständigen Hamburger Finanzbeamten wollten das Geld zurückholen – zumal 2016 die letzte Chance für Hamburg bestand, das Geld einzutreiben. Andernfalls wäre der Anspruch verjährt. Doch überraschend entschied der Stadtstaat: Warburg durfte das Geld behalten. Warum?
Die Frage stellt sich umso drängender, weil Warburg die Millionen bei illegalen Cum-ex-Geschäften eingestrichen hatte. Finanzdienstleister wie Warburg handelten dabei Aktien im Kreis: Dadurch gelang es ihnen, sich zwei Mal Steuern vom deutschen Staat erstatten zu lassen, die zuvor nur ein Beteiligter gezahlt hatte. Das ist ungefähr so, als würden sich Supermarktkunden Pfand für eine Wasserflasche zwei Mal auszahlen lassen.
Anfangs waren auch Hamburgs Finanzbeamte sicher: Warburg hatte bei solchen Geschäften mitgedealt. Später bekamen sie angeblich Angst wegen eines möglichen Prozesses mit Warburg. Sie konnten die Geschäfte der Bank dann doch nicht mehr nachweisen und verzichteten auf das Geld. Dabei hätten sie die Millionen selbst ohne zweifelsfreien Beweis zumindest zurückfordern können – und Warburg hätte nicht einmal sofort zahlen müssen.
Beobachter witterten deshalb früh einen Skandal – und sahen ihren Verdacht bestätigt, als Medien pikante Treffen enthüllten. Die Warburg-Eigner, Christian Olearius und Max Warburg, hatten die Rückforderung beim damaligen Ersten Bürgermeister Scholz adressiert – bevor der Stadtstaat entschied, das Geld nicht zurückzuholen.
Schneller schlau: Cum-ex-Geschäfte
Bei den auch „Dividendenstripping“ genannten Geschäften geht es um den raschen Kauf und Verkauf von Aktien rund um den Dividendenstichtag, um Kapitalertragssteuern mehrfach vom Fiskus erstattet zu bekommen. Am Tag vor der Dividendenzahlung ist diese im Aktienkurs mit eingepreist. An der Börse spricht man von einem Kurs „cum Dividende“.
Am Tag nach der Ausschüttung, in der Regel einen Tag nach Hauptversammlung, die die Dividendenzahlung beschließt, ziehen die Börsenbetreiber die Dividende vom Kurs ab, das heißt die Aktie wird „ex Dividende“ gehandelt. Von Banken bekamen die Aktienkäufer und -verkäufer eine Bestätigung, die Kapitalertragsteuer abgeführt zu haben, was sie beim Fiskus mehrfach steuerlich geltend machten - obwohl sie so nicht gezahlt hatten.
Ein Beispiel: Die Banken verkaufen die Aktien leer an einem „cum“-Tag, müssen sie aber wegen der Börsenregelungen erst nach zwei Tagen an den Käufer liefern. Sie beschaffen sich die Papiere also nach dem Dividendenstichtag zum „ex“-Preis – also ohne Dividende – von einem Dritten und liefern diese Aktien an den Käufer. Dabei parallel abgeschlossene Kurssicherungsgeschäfte, die Risiken ausschließen, sichern den Gewinn aus der Transaktion.
Papiere werden rund um den Dividendenstichtag – meist der Tag der Hauptversammlung – schnell hintereinander ge- und wieder verkauft. Leerverkäufer verdienen, wenn der Aktienkurs bis zum Liefertermin gefallen ist und sie so die Aktien billiger kaufen können, als sie sie verkauft haben.
Generell wird auf die gezahlte Dividende Kapitalertragssteuer fällig. Im geschilderten Konstrukt ließen sich sowohl der Käufer als auch der jeweilige Dritte, von dem sich die Banken die Aktien beschafft hatten, die Kapitalertragsteuer vom Finanzamt erstatten. Die Finanzämter zahlten so mehr Steuern zurück, als sie zuvor eingenommen hatten.
Im Wesentlichen nutzten Banken und Profianleger wie Fonds oder Börsenhändler den Steuertrick mittels Dividendenstripping.
Für Privatanleger sind Cum-ex-Geschäfte zu aufwendig, zumal es sich bei kleinen Anlagesummen kaum rechnet. Sie hätten nur geringe bis keine Chancen gehabt, an solchen Deals zu verdienen.
Banken und Investoren nutzten bestimmte Eigenheiten der Abwicklungssysteme an den Börsen, aber auch steuerrechtliche Besonderheiten – und das offensichtlich über Jahre hinweg und mit Wissen von Bund, Ländern und Finanzbehörden. So erklärte der Bundesfinanzhof das Dividendenstripping bereits in einem Urteil aus dem Jahr 1999 für grundsätzlich rechtens. Geschlossen wurde das Schlupfloch aber erst 2012 durch eine Neuregelung der Nachweispflichten.
Die Sitzung beginnt, Scholz darf sie mit einem Statement eröffnen: Steuerbetrug sei „kein Kavaliersdelikt“, sagt er. Er habe sich sein Leben lang dafür eingesetzt, dass der Staat solche Taten verfolge – und dabei werde es auch bleiben. Nun kommt er zum Warburg-Fall: „Es hat keinen Einfluss auf das Steuerverfahren gegeben“, sagt er. Das belege doch auch die Arbeit des Hamburger Untersuchungsausschusses, meint Scholz. „Die Unterstellungen sind falsch und werden durch nichts gestützt“, sagt er. „Da war nichts.“ Er habe allerdings keine „konkreten Erinnerungen“ mehr an die Treffen mit den Warburg-Bankern. Als Hamburgs Erster Bürgermeister habe er viele Gespräche geführt, auch mit anderen Geldhäusern. Grundsätzlich würde er bei solchen Treffen nie durchblicken lassen, was er wirklich denke.