Die Änderung politischer Ziele gleicht den Symptomen einer Grippe. Erst spürt man nur ein kleines Kribbeln im Hals oder einen leichten Druck im Kopf – und plötzlich wird man von Schüttelfrost und Gliederschmerzen geplagt. Spätestens dann ist klar, dass jede Gegenwehr sinnlos ist und man sich der Krankheit ergeben muss.
Ähnlich läuft es gerade mit dem Versprechen der Ampelkoalition, die Aussetzung der Schuldenbremse spätestens 2023 wieder rückgängig zu machen. Doch nach Corona und Klimawandel stehen jetzt Krieg und Energiekrise auf der politischen Tagesordnung, was vor allem für die Parteien links der Mitte jegliche Rückkehr zur Haushaltsdisziplin unmöglich macht – von „Sparen“ wagt man ja inzwischen schon gar nicht mehr zu sprechen. Zuerst forderten die SPD-Linken, die lästige Schuldenbremse doch bitte auch im kommenden Jahr außer Acht zu lassen. Dann schlossen sich die Grünen an – aber die wirklich Einflussreichen schwiegen noch.
Doch jetzt brechen alle Dämme. Den Anfang macht der niedersächsische SPD-Ministerpräsident Stephan Weil, der Anfang Oktober Wahlen bestehen muss und der angesichts stark schwindender Zustimmung zur Sozialdemokratie um seine Chancen auf Wiederwahl fürchten muss.
Das teure Beistandsversprechen von Olaf Scholz („you never walk alone“) ergänzte ein panischer Weil noch mit einem bunten Strauß neuer, besserer, gerechterer und natürlich höherer Staatshilfen zum Wohle der Bürger und seiner Wähler. Bezahlt werden kann das alles natürlich nur mit neuen Schulden, weshalb Weil die Schuldenbremse ein weiteres Jahr außer Kraft setzen will. Man muss kein Prophet sein, um die weitere Entwicklung vorherzusagen: SPD und Grüne werden sich mit immer neuen Versprechen überbieten und dafür allzu gerne die versprochene Haushaltsdisziplin opfern.
Lesen Sie auch: Olaf Scholz will vom Rat der Ökonomen nichts wissen
Für den liberalen Partner in der Ampelkoalition ist diese Zuspitzung der Lage äußerst gefährlich. Christian Lindner, der sich als FDP-Chef und Bundesfinanzminister der Ampel in der Rolle eines Garanten für finanzpolitische Stabilität sieht, kann einem erneuten Verzicht auf die Schuldenbremse unter keinen Umständen zustimmen, wenn er morgen noch in den Spiegel schauen will. Für die FDP, die bereits bei den vergangenen Landtagswahlen in NRW und Schleswig-Holstein empfindliche Einbußen hinnehmen musste und die im Saarland sogar aus dem Parlament flog, wäre ein solches Einknicken auch in Niedersachsen brandgefährlich.
Bleibt Linder aber hart und pocht auf die Einhaltung des Koalitionsvertrages, kann das angesichts der krisenhaften Gesamtlage durchaus zum Sargnagel für das ohnehin schon brüchige Regierungsbündnis werden. Als Liberale zwischen zwei linken Parteien sitzen Lindner und die FDP jetzt in der Zwickmühle. Man darf gespannt sein, wer zuerst nachgibt.
Lesen Sie auch: Versteckter Sparplan: Lindners großes Streichkonzert
Dieser Beitrag entstammt dem WiWo-Newsletter Daily Punch. Der Newsletter liefert Ihnen den täglichen Kommentar aus der WiWo-Redaktion ins Postfach. Immer auf den Punkt, immer mit Punch. Außerdem im Punch: der Überblick über die fünf wichtigsten Themen des Tages. Hier können Sie den Newsletter abonnieren.