Aber es sind nicht nur politisch gewollte Zusatzbelastungen, die die Unterrichtskraft der Lehrer schwächen. Dazu kommt eine wachsende Anspruchshaltung von Schülern und Eltern an die Erreichbarkeit. Ein besonders nervenaufreibendes und zeitraubendes Phänomen, das Lehrer von ihren eigentlichen pädagogischen Aufgaben abhält, sind die in den letzten Jahren anscheinend zahlreicher werdenden "Helikoptereltern". Übereifrige Eltern, die beschützend und kontrollierend über ihren Kindern kreisen und die Lehrer als Servicekräfte eines Dienstleistungsunternehmens betrachten, in dem ihr Kind gefälligst nach allerneuesten Methoden und mit Erfolgsgarantie auf den Weg zu einer Glanzkarriere gebracht werden soll. Lehrer Lorenz berichtet zum Beispiel vom Vater einer Schülerin, die weder besonders gute noch besonders schlechte Noten hatte und nicht den geringsten Anlass für ein Elterngespräch bot. "Der Mann, ein Psychologe, brachte eine Menge Unterlagen mit und wollte mir erklären, wie mein Beruf funktioniere. Für seine Tochter sei Frontalunterricht ganz schlecht."
Zeitaufwändiges "Allheilmittel"
Viele bildungspolitische Neuerungen der letzten Zeit schaffen solchen Helikopter-Eltern – vermutlich nicht ungewollt, denn es sind schließlich Wähler mit besonderem Augenmerk auf Bildungspolitik – zusätzliche Eingriffsmöglichkeiten und torpedieren die Autorität der Lehrer.
Zum Beispiel das in keiner bildungspolitischen Sonntagsrede fehlende Allheilmittel "individuelle Förderung". Es klingt für Eltern – also Wähler – überzeugend, wenn ihr Kind bei Problemen in den Genuss besonderer Maßnahmen kommt. Doch die individuelle Schulrealität ist ernüchternd.
Was Schüler in der neunten Klasse können sollen
Es ging um die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik) – und zwar über alle Schulformen hinweg. In Mathematik wurden sechs Kompetenzformen aus dem gesamten Spektrum mathematischen Arbeitens untersucht, wie „Probleme mathematisch lösen“ aber auch „Raum und Form“ sowie „Daten und Zufall“. In den Naturwissenschaften ging es vor allem um Grundbildung, aber auch um fachübergreifendes Problemlösen.
Die Aufgaben wurden auf der Grundlage der von den Kultusministern für alle Bundesländern verbindlich eingeführten Bildungsstandards für diese Fächer entwickelt – unter Mitwirkung von Schulpraktikern. Bildungsstandards beschreiben, was ein Schüler am Ende einer Jahrgangsstufe können soll. Sie gelten für Lehrer als pädagogische Zielvorgabe und haben damit die zuvor in allen Bundesländern unterschiedlichen Lehrpläne abgelöst.
Die Untersuchung fand vormittags in der Schule statt und dauerte jeweils etwa dreieinhalb Zeitstunden (inklusive Pausen). Hinzu kamen anschließend Interviews mit Schülern, Fachlehrern und Schulleiter über die Lernbedingungen.
Der „Klassiker“ ist die weltweite PISA-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Des weiteren gibt es noch die internationale IGLU-Grundschulstudie und die internationale TIMSS-Untersuchung mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften – sowohl für die Grundschule als auch für die achten Klassen. Allerdings haben die Kultusminister bei PISA und IGLU die zuvor üblichen Bundesländervergleiche gestoppt. Deutschland macht zwar bei den internationalen Studien weiter mit, aber nur noch mit einer kleineren nationalen Stichprobe – etwa 5000. Dies ermöglicht kein Bundesländer-Ranking.
Darüber lässt sich nur spekulieren: Die Kultusminister können die politisch brisanten Bundesländervergleiche auf der Basis ihrer eigenen vereinbarten Bildungsstandards sicherlich besser steuern. Auch das IQB arbeitet im Auftrag der Kultusministerkonferenz. Zuvor war es vor allem mit den internationalen PISA-Forschern der OECD wegen der ungünstigen deutschen Chancengleichheitswerte und der Schulstrukturfrage immer wieder zu Konflikten bei der Interpretation von Daten gekommen.
Überraschend ist, dass neben allen ostdeutschen Ländern diesmal aus dem Westen nur Bayern und Rheinland-Pfalz durchgängig gut abschneiden. Mathematik und Naturwissenschaften waren eine Domäne der DDR-Schulen. Auf die Fachlehrerausbildung legte man hier besonderen Wert. Auch spielen die Naturwissenschaften auf den Stundentafeln der ostdeutschen Schulen heute noch eine größere Rolle als im Westen.
Die Studie belegt erneut die erschreckend hohe Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland. Neuntklässler aus der Oberschicht haben gegenüber Gleichaltrigen aus bildungsfernen Schichten einen Lernvorsprung in Mathematik von fast drei Schuljahren.
Bildungsexperten raten seit Jahren, nicht ganze Bundesländer miteinander zu vergleichen, sondern besser Regionen mit ähnlichen Wirtschaftsstrukturen und Problemlagen. Also etwa Berlin mit dem Ruhrgebiet, wegen der hohen Ausländerquoten unter den Schülern, oder ländliche Gebiete im Osten Deutschlands mit denen im Westen, wegen Abwanderung und Bevölkerungsrückgang.
In Hessen zum Beispiel müssen Lehrer jedem Schüler, dem eine Fünf auf dem Zeugnis droht, einen solchen Förderplan schreiben. Wenn Lehrer das versäumen und dem betreffenden Schüler eine Fünf geben, wird das Zeugnis anfechtbar. Es soll vorgekommen sein, dass Zeugnisse aus diesem Grund nach dem Einspruch von Eltern einkassiert und auf Anweisung der Schulaufsichtsbehörde mit einer Vier statt Fünf neu ausgestellt wurden.
Bessere Noten zur Zeitersparnis
Michael Lorenz hat im vergangenen Schuljahr rund 60 solcher Förderpläne geschrieben. Natürlich geht der Aufwand auf Kosten der Zeit zur Vorbereitung des Unterrichts. Entsprechend groß ist die Verlockung, dem Schüler einfach eine Vier minus und sich selbst weniger Arbeitsaufwand zu gönnen. Viele Lehrer geben nach und verstärken damit die ohnehin grassierende Noteninflation. Die Einführung der individuellen Förderung führt so in der Praxis nicht zu einer Besserung des Unterrichtsniveaus, sondern eher zur Verschlechterung.
In anderen Bundesländern läuft es ähnlich. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Nicht versetzte Schüler haben häufig ein Recht auf eine besondere Prüfung, um sich doch noch das Sitzenbleiben zu ersparen. Bis vor wenigen Jahren fand diese Prüfung an den ersten beiden Tagen des neuen Schuljahres nach den Sommerferien statt. Doch mittlerweile ist sie in die letzte Ferienwoche verlegt worden. So verpassen die Schüler keinen Unterricht, hieß es zur Begründung. Die Leidtragenden sind die nordrhein-westfälischen Lehrer, die in den Ferien diese Prüfungen abhalten müssen. Es sei denn, der betreffende Schüler kommt erst gar nicht in die Bredouille. In den vergangenen Jahren hat jedenfalls auch in Nordrhein-Westfalen der Anteil der Zeugnis-Fünfen und Sitzenbleiber auf wundersame Weise abgenommen.