Freude überall. Im Frühjahr 2018 melden die Nachrichtenagenturen, dass Deutschland früher als erhofft wieder einen Schuldenstand von unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen wird. Schon 2019 sollen die Schulden auf 58 Prozent des BIP sinken, damit unter das im Maastricht-Vertrag zur Euroeinführung vorgesehene Höchstniveau und bis 2021 auf 53 Prozent des BIP. Das Finanzministerium rechnet bis 2021 durchgehend mit Überschüssen von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen zwischen 1 und 1,5 Prozent des BIP. Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat sich dazu verpflichtet, die „Politik der schwarzen Null“, also den Verzicht auf neue Staatsschulden, fortzusetzen.
Der (bisherige) Höchststand der Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt von 81 Prozent war im Jahr 2010 erreicht worden. Also eine echte Erfolgsstory unserer Politiker, die damit vielleicht kompensieren wollen, dass die privaten Haushalte in Deutschland nicht so vermögend sind? Ein relativ reicher Staat (weil weniger verschuldet) als Trost für die kleineren Vermögen und damit als zukünftig geringere Belastung, weil wir ja vorgesorgt haben?
Leider nein. Diese Hoffnungen muss ich sogleich enttäuschen. Die „schwarze Null“ und ihre Folgen sind eine der großen Täuschungen der Politik, die unseren Wohlstand nicht mehrt, sondern zusätzlich mindert.

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Die „Sparleistung“ von Wolfgang Schäuble, Scholz’ Vorgänger im Amt des Bundesfinanzministers, lag also darin, die Ausgaben weniger stark wachsen zu lassen als die Einnahmen. Da ein guter Teil der Ausgaben jedoch ohne jegliches Zutun der Politiker gesunken ist, nämlich die Finanzierungskosten, ist sie nur unter politischen Gesichtspunkten eine „Leistung“. Schäuble hat immerhin noch höheren Ausgabenwünschen der Kabinettskollegen widersprochen.
Die Nebenwirkungen der „schwarzen Null“ sind erheblich. Zum einen fördert das staatliche Sparen zusätzlich den Ersparnisüberhang bei uns, der mit den Exportüberschüssen korrespondiert. Zum anderen haben die Politiker am falschen Ende die Ausgaben gekürzt. Nämlich bei der Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
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Verfall der Zukunft
Unternehmen und Staat investieren in Deutschland seit Jahren zu wenig. Eine Vielzahl von Studien analysiert diese Entwicklung, und an Appellen an die Politik, dies zu ändern, mangelt es nicht. Bisher jedoch vergeblich.
Investitionen bestimmen das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial und damit die Einkommen, die im Inland entstehen werden. Gerade angesichts der absehbaren demografischen Entwicklung – Forscher erwarten alleine aufgrund des Bevölkerungsrückgangs in den kommenden Jahren eine Halbierung der Wachstumsraten – kommt der aktuellen und zukünftigen Investitionstätigkeit eine entscheidende Bedeutung zu. Umso schlimmer ist es, dass die Investitionen seit Beginn des Jahrtausends gesunken sind. Wurden in Deutschland in den 1990er-Jahren noch Nettoinvestitionen (also Bruttoinvestitionen abzüglich der Abnutzung des vorhandenen Kapitalstocks) im Umfang von rund 7,5 Prozent des BIP getätigt, so sank die Quote auf 2,2 Prozent im Zeitraum von 2010 bis 2016. Dabei war die Investitionstätigkeit in den 1990er-Jahren sicherlich auch wegen der Wiedervereinigung auf einem außergewöhnlich hohen Niveau. („Investieren Staat und Unternehmen in Deutschland zu wenig?“, Institut der deutschen Wirtschaft, S. 9, 2017).
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Besonders schlecht ist die Entwicklung des Nettoanlagevermögens beim Staat. Seit 1991 veraltet das staatliche Vermögen zusehends. Die Investitionen in den Kapitalstock haben sich gegenüber den frühen 2000er-Jahren mehr als halbiert, was zu einer immer älteren staatlichen Infrastruktur führt. Die Abgänge aus Abschreibungen wurden nicht ersetzt. Wir leben von der Substanz, lassen unsere Infrastruktur verfallen und feiern zugleich die „schwarze Null“ als politischen Erfolg, dabei hätte man die Gelder anderweitig verwenden können und müssen. Um einen Verfall des Kapitalstocks und damit der Zukunftsfähigkeit des Landes zu stoppen, muss dringend mehr investiert werden.
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kommt angesichts dieser Entwicklung zu einer ernüchternden Aussage: „Die dargelegte Entwicklung der Sachinvestitionen gefährdet das wirtschaftliche Potenzial Deutschlands. Denn öffentliche Investitionen sind von sehr großer Bedeutung, da sie die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Infrastruktur sichern, welche die Grundlage für private Investitionen bildet.“ (S.31) Alles, was vor dem Jahr 1990 gebaut wurde, dürfte zur Grundsanierung anstehen, so die Forscher. […]
Das IW dazu: „Die Folgen dieser Altersstruktur zeigen sich derzeit am deutlichsten an den Brückenbauwerken. Fast die Hälfte der Autobahnbrücken (gemessen nach Brückenfläche) wurde zwischen 1965 und 1975 gebaut. Diese Brücken waren nie für die heutigen Verkehrsmengen ausgelegt und wären selbst bei guter Pflege heute für eine Grundsanierung fällig gewesen.
Tatsächlich müssen viele dieser Brücken aber ersetzt werden, da ihr baulicher Zustand als wirtschaftlicher Totalschaden einzustufen ist. Prominentestes Beispiel ist die Leverkusener Brücke. Aber auch die 14-tägige Vollsperrung der A 40 im August 2017 fällt in diese Kategorie. Im Sommer 2017 berichtete die Bundesregierung, dass etwa 14 Prozent der Autobahnbrückenfläche in die Zustandskategorie „nicht ausreichend“ oder schlechter fallen. Diese Brücken sind häufig in der Nutzung eingeschränkt, etwa durch Tempolimits oder Teilsperrungen. Von den Brücken in kommunaler Baulast fielen im Jahr 2013 rund 19 Prozent in die kritischen Kategorien. Etwa 10.000 kommunale Brücken galten als nicht mehr sanierungsfähig und müssen ersetzt werden.“ (S.34)
Bei den Straßen sieht es nicht besser aus, bei denen seit dem Jahr 2000 ebenfalls von der Substanz gelebt wird: „Die vorliegenden Daten zeigen, dass von etwa 13 000 Kilometern Autobahn 17,5 Prozent der Streckenkilometer sanierungsbedürftig sind. Bei den Bundesstraßen sind es 33,9 Prozent von gut 39.000 Streckenkilometern. Mehr als 10 Prozent der Autobahnen und fast 19 Prozent der Bundesstraßen müssten sogar umgehend saniert werden. Dabei ist davon auszugehen, dass der Zustand der Bundesfernstraßen noch spürbar besser ist als der Landes- oder Kommunalstraßen. So ergab beispielsweise die letzte Erfassung der Landesstraßen in NRW, dass fast 50 Prozent der Streckenkilometer in den kritischen Kategorien anzusiedeln waren. Die auf den Erhaltungsausgaben des Landes basierenden Prognosen gehen davon aus, dass besonders der Anteil der sehr schlechten Straßen bis 2028 drastisch steigen wird.“ (S.36)